„Was ist, wenn es uns nicht mehr gibt?“ Renata Heusser, Mutter des schwer kranken Romeo
Der 10jährige Sohn von Renata Heusser Jungman leidet am seltenen Dravet Syndrom, einer schweren Form von Epilepsie, die als nicht behandelbar gilt.
Der Verlauf ist dramatisch: Meist treten im ersten Lebensjahr eines zuerst gesunden Kindes epileptische Anfälle auf. Manchmal sind diese so lange, dass sie das Gehirn und somit die kognitive Entwicklung schädigen.
Da die Krankheit so wenig bekannt ist, gibt es kaum Forschungsgelder. Beides versucht Renata Heusser Jungman mit dem von ihr gegründeten Verein Dravet-Syndrom Schweiz zu ändern. Wie eine Löwin.
Was sie in ihrem Alltag erlebt, das können nicht betroffene Eltern vielleicht erahnen, aber ich erlaube mir zu sagen: Wir haben alle keine Ahnung, wie es wirklich ist.
Renata Heusser hat neben Romeo noch den 3jährigen Luca, Vater der beiden Buben ist der argentinische Tangomusiker Luciano Jungman.
Vor etwas über 11 Jahren wanderte sie zu ihm nach Buenos Aires aus, es lockte das Leben in der Heimat ihres Mannes, unbeschwert und leichtfüssig war sie damals unterwegs. Sie heirateten, bald darauf wurde Romeo geboren.
Die studierte Lebensmittelingenieurin konnte aus der Ferne weiterhin für die Eidgenössische Technische Hochschule ETH Zürich tätig sein (wo sie heute noch arbeitet), sie schien auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen…
…bis zu diesem verhängnisvollen Tag vor bald 10 Jahren, als Romeo seinen ersten Anfall hatte, der alles veränderte. Es sollte noch eineinhalb Jahre dauern, bis die Familie mit der Diagnose konfrontiert wurde und Gewissheit hatte, dass alles anders sein würde als sie es sich als junge Eltern für ihr Kind erwünscht hatten.
Romeo wird Zeit seines Lebens eine 24 Stunden-Betreuung brauchen.
Ich treffe Renata Heusser im Zürcher Universitätsquartier zum Mittagessen. Sie wirkt stark, gleichzeitig verletzlich – und müde.
Wir führen ein Gespräch über ihr Leben zwischen Hoffnung und Akzeptanz, zwischen ihren zwei so unterschiedlichen Söhnen, zwischen Ausnahmezustand und etwas Normalität.
«Wenn man den Regenschirm mitnimmt, regnet es nicht.»
Anna Maier: Wie geht es dir?
Renata Heusser Jungman: Gut. Müde. Ich bin eigentlich immer müde. Aber mein Köper hat sich auf wundersame Weise darauf eingestellt. Nach einer langen Reise mit den Kindern merke ich aber schon, wie sich eine Erschöpfung breit macht.
Ihr seid nach Argentinien geflogen, wo ihr früher gewohnt habt. Warum jetzt?
Wir wollten schon lange wieder einmal nach Buenos Aires, als Familie. Vor allem auch mit unserem Jüngsten, der noch nie dort war. Es war eine Reise für die ganze Verwandtschaft, die ihn noch nie gesehen hat, nur einige wenige sind schon zu Besuch gekommen.
Romeo kam in Buenos Aires zur Welt, hat seine frühe Kindheitdort verbracht. Konnte er sich erinnern?
Ich kann es nicht sagen. Was aber ganz schön war: Ich hatte das Gefühl, dass über die Musik Erinnerungen in ihm wach wurden. Wir haben bei meiner Schwägerin gewohnt, in unserem früheren Hausteil. Ich glaube zwar nicht, dass Romeo sich daran noch erinnern konnte, aber an die Musik schon. Auf vielen Spielplätzen in Buenos Aires gibt es so kleine Karussells mit Musik. Er hatte schon als kleines Kind grosse Freude, wenn er diese Musik hörte. Mir schien, dass er ein Revival gehabt hat.
Wie musstet ihr euch auf den Flug vorbereiten?
Einerseits hat uns Romeos Ärztin ein Notfallprotokoll geschrieben, auf Englisch, für die Rettungsfachkräfte und Ärzte, falls es nötig wäre. Und wir haben Sauerstoff mitgenommen. Aber wie die Flight Attendant so schön gesagt hat: «Wenn man den Regenschirm mitnimmt, regnet es nicht.»
Wenn Romeo einen Anfall gehabt hätte, hättet ihr die Medikamente selbst verabreichen können oder wärt ihr auf fremde Hilfe angewiesen gewesen?
Es kommt immer auf die Länge des Anfalls an, wir haben ein Notfallmedikament, das wir immer geben, wenn ein Anfall über drei Minuten dauert. Wenn er nicht aufhört, haben wir im Flugzeug ein Problem. Für diesen Fall haben wir zwar Ampullen dabei, die wir ihm geben können, aber diese können wir nicht selber verabreichen, das heisst, wir sind auf medizinisches Fachpersonal angewiesen, das zufällig mit auf dem Flug ist oder darauf, dass man eine Notlandung machen könnte.
Muss man diese Eventualität vor dem Flug anmelden?
Wir haben angemeldet, dass wir Sauerstoff dabei haben. Und ich informiere bei einem Langstreckenflug, wenn wir ins Flugzeug einsteigen, das Flugpersonal jeweils ausführlich, einfach, damit es Bescheid weiss. Dann geben wir zusätzliche Medikamente: Weil Romeo vor allem bei Fieber schwere Anfälle hat, geben wir ein fiebersenkendes Mittel vor dem Flug.
Eine kleine Krankenstation, die ihr da mitgeschleppt habt?
Ja, in meinem Handgepäck war nur meine Schlafbrille, die mir gehört, der Rest war vollgepackt mit Medikamenten für Romeo. Alles, was wir für ihn in den drei Wochen benötigten, war drin, meine Tasche war übervoll.
Der Flug verlief aber ohne Komplikationen?
Es ist alles gut gegangen, ja, auf beiden Flügen.
«Der Traum vom Leben in der Ferne existiert jetzt halt nicht mehr.»
Vor Romeos Geburt habt ihr in Argentinien gelebt, dem Heimatland deines Mannes. Dieses Leben musstet ihr abbrechen, weil die medizinische Betreuung in der Schweiz für Romeo einfacher gwährleistet werden kann. Wie war es nun, wieder dahin zurückzukehren, wo ein Lebenstraum abgebrochen wurde?
Schwierig. Einerseits. Es ist schon lang genug her. Wir haben unseren Hausteil zuerst vermietet und erst jetzt verkauft. Das war auf eine Art der «definitive» Abschluss. Andererseits weiss ich, dass es uns hier als Familie besser geht, das Klima ist für Romeo ideal in der Schweiz.
Kann die Hitze in Buenos Aires einen Anfall auslösen?
Ja, die Wärme und die Feuchtigkeit, das ist auch der Grund, warum wir nicht im Sommer dorthin sind sondern im Frühling. Wir hatten zwar extrem viel Regen, in Buenos Aires war es Herbst, aber die Temperaturen waren besser für Romeo.
Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich weiss nicht, ob ich das Kapitel Buenos Aires wirklich abgeschlossen habe, es ist die Heimat meines Mannes. Es ist eher so, dass für mich der Traum vom Auswandern jetzt halt nicht mehr exisitiert.
Wie war das damals, als ihr zurück in die Schweiz gekommen seid, als dein Mann hierher ausgewandert ist und ihr in deinem Land gelebt habt?
Beim Auswandern oder wenn man irgendwo neu ankommt, ist die Sprache enorm wichtig, und ich hatte sicher den Vorteil, dass ich damals in Argentinien die Sprache beherrschte. Umgekehrt war das nicht so.
Es war ein ganz, ganz schwieriger Start für meinen Mann, wegen der Sprache, der Kultur, der Situation. Der Plan war ja ein völlig anderer.
Als wir zurück in die Schweiz kamen, fand ich schnell eine Stelle, habe 80% gearbeitet. Mein Mann musste sich erst zurechtfinden auf dem Arbeitsmarkt, sich einen Namen machen. Er war viel mit Romeo, der hatte dauernd Infekte, das heisst, wir waren immer im Krankenhaus, mussten uns ständig an neue Mediziner und Krankenhäuser gewöhnen, das war einfach ganz schwierig.
«Ich habe lange Zeit gehofft, dass es wieder vorbei geht.»
Romeo war acht Monate alt, als er den ersten Anfall hatte, damals habt ihr noch nicht wissen können, was das für euer Leben bedeutet. Wenn du zurückschaust auf die unbeschwerte Zeit vor diesem Wendepunkt: Was hat der Moment des ersten Anfalls mit dir gemacht, mit dir persönlich, wie hast du dich da verändert?
Das kann ich nicht so einfach beantworten. Was es sicher mit mir gemacht hat, war, die Relationen zu sehen, was wirklich wichtig ist im Leben.
Ich bin im Nachhinein immer noch extrem dankbar, dass die Ärztin damals so schnell reagiert hat. Es ging relativ lang, bis wir die Bestätigung hatten, was Romeo fehlt.
Aber es war ein Glück, dass Romeo Dank der Ärztin, die sehr schnell einen Verdacht hatte, nie die falschen Medikamente bekommen hat. Dafür bin ich ihr ewig dankbar.
Wir haben ja zuerst gedacht, es wäre eine Reaktion auf die Impfung, die Romeo kurz vorher bekommen hatte.
Es gab aber keinen Zusammenhang?
Nein, obwohl wir es zuerst vermuteten. Es kommt ja gerne zu Krampfanfällen, wenn der Körper die erste Immunantwort gibt.
Habt ihr beim ersten Mal gehofft, dass es ein einmaliger Anfall bleibt?
Ich habe auch viel später, nach weiteren Anfällen, immer noch gehofft, dass alles vorbei geht. Als wir erstmals mit dem Verdacht auf die Diagnose konfrontiert wurden, sagte ich mir: «Solange wir nicht die Bestätigung von einer Ärztin oder einem Arzt bekommen haben, ist es vielleicht was ganz anderes, harmloses.»
«Es war gar nicht gut, das wusste ich sofort.»
Als Romeo acht Monate alt war und den ersten Anfall hatte, was ist da genau passiert mit ihm?
Der allererste Anfall dauerte nur 10 Minuten, für uns extrem lange 10 Minuten. Wir waren alle morgens um halb sechs im Halbschlaf. Ich habe gesehen, er zuckt unaufhörlich, es war gar nicht gut, das wusste ich sofort.
Wusstest du, dass es kein Fieberkrampf war?
Er hatte eben kein Fieber. Wir haben 600 Meter vom Krankenhaus weg gewohnt, deshalb waren wir relativ schnell dort, noch auf dem Weg hat der Anfall aufgehört. Zwei Tage musste Romeo zur Überwachung bleiben, es war alles gut, deshalb habe ich mir danach nicht so viele Gedanken gemacht. Bis 10 Tage später, als er dann einen Status gehabt hat. Ein Status ist ein epileptischer Anfall, der länger als 20 Minuten dauert.
Kann man sagen, nach einem Status besteht die Gefahr, dass es bleibende Schäden gibt?
Ja, er ist lebensgefährlich. Es gibt nicht so viele Studien über die Anfallsfrequenz und die Entwicklung, aber es ist bekannt, dass die Kinder, die einen Status hatten, kognitiv stärker beeinträchtigt sind. Es gibt Kinder mit dem Dravet Syndrom, die noch nie einen Anfall gehabt haben, der länger als 15 Minuten gedauert hat, und die sind meist besser dran.
Wie viele Anfälle hat Romeo heute noch? In welcher Frequenz?
So ungefähr vier pro Monat.
Kann man diese medikamentös senken?
Das probieren wir, er hat jetzt zum Beispiel einige Wochen lang keine gehabt, aber im Monat davor hatte er 12.
Und jetzt in Buenos Aires?
Einen. Ganz zum Schluss, am zweitletzten Ferientag. Wir waren im Familienkreis und er war am Schlafen, er hat sich keine Verletzungen zugezogen. Wenn er tagsüber einen Anfall hat, dann besteht die grosse Gefahr, dass er stürzt. Im Schlaf sind sie noch am angenehmsten. Mittlerweile hat er so viele Anfälle gehabt, dass es auf eine gewisse Art wie eine Routine ist für mich, obwohl ich immer wieder von Neuen erschrecke.
Was passiert in einem solchen Moment bei dir?
Es setzt ein Mechanismus ein. Ich funktioniere nach Schema.
Wir haben auf der Terrasse gesessen. Romeo trug das Pulsoxymeter, das den Sauerstoffgehalt im Blut und den Puls misst, und dessen Alarm sehr laut ist. Dieser Alarm ging also los und mein Mann und ich, wir sind beide losgelaufen.
Als erstes stoppen wir die Zeit, wie lange der Anfall dauert, wir kontrollieren, dass Romeo nicht irgendwie auf dem Bauch liegt und keinen Sauerstoff mehr bekommt.
Es war eigentlich nicht anders als Zuhause. Das Vertrauen und das Wissen ist da, im Krankenhaus dort können sie damit umgehen.
Es ist natürlich viel schwieriger, wenn wir unterwegs sind, Freunde besuchen, oder in die Berge fahren, an abgelegene Orte.
«Ich habe Herzrhythmusstörungen.»
Es scheint mir, dass du ähnlich funktionierst, wie wenn du als Sanitäter 24 Stunden Bereitschaftsdienst hättest. Nur, dass du nie Pause hast. Das macht ja auch etwas mit einem, ständig in Alarmbereitschaft zu sein. Wie hälst du das aus?
Ich spüre es körperlich. Da ist einerseits das Adrenalin, das erhöht ist, das vielleicht auch nötig ist, und ich habe Herzrhythmusstörungen, das haben sehr viele Mütter in ähnlichen Situationen auch, ich bekomme die nicht weg.
Während der Schwangerschaft und Stillzeit, als Luca auf die Welt gekommen ist, hatte ich die nicht, darum weiss ich, wie es sich ohne anfühlt. Bei einem EKG, das die Ärzte gemacht haben, hatte ich zum Teil bei jedem 2. Herzschlag ein Stolpern.
Macht dir das Angst?
Die Herzrhythmusstörungen? Sie machen mir keine Angst, sie nerven mich. Ich weiss, es ist der Stress, die Alarmbereitschaft.
Ihr wisst genau, was ihr im Notfall machen müsst, jede Bewegung sitzt, du und dein Mann, ihr seid ein eingespieltes Team. Ist er auch im Hinterkopf, der Gedanke, dass dir nichts passieren darf?
Der ist natürlich auch immer da, vor allem die Angst, was ist, wenn es uns mal nicht mehr gibt? Ich hoffe, dass wir durchhalten.
Man wird müde, oder?
Ja, man wird müde.
Und was wäre, wenn euch oder einem von euch etwas passieren würde?
Ich mache mir schon mal solche Gedanken. Wir haben sehr viel dokumentiert. Wir haben einen Tagesplan für die Betreuer, in dem steht drin, was Romeo von morgens bis abends bekommt, wann das Fieber zur Kontrolle gemessen werden muss, wann welche Medikamente verabreicht werden. Dieses Blatt ist immer in Romeos Rucksack. Falls irgendetwas passieren würde, wäre dort die erste Information drin.
«Es muss einem bewusst sein, dass das «andere Kind» viel zurückstecken muss.»
Hat es viel Mut erfordert, euch für ein zweites Kind zu entscheiden?
Ich habe nicht das Gefühl, dass wir dafür viel Mut aufbringen mussten. Wir wollten nie ein Einzelkind. Ich habe irgendwie auch gespürt, dass es uns gut tun würde, auch wenn es rein organisatorisch ein Kraftakt ist.
Auch energietechnisch.
Jaja, natürlich. Wir haben jetzt auch in den Ferien bemerkt, dass einfach nicht alles geht. Auf der einen Seite ist da ein Dreijähriger, Luca, der auch seine Bedürfnisse hat, und noch nicht so wahnsinnig vernünftig ist, und das in einer grossen Millionenstadt mit so viel Verkehr, wo man extrem aufpassen muss. Und auf der anderen Seite Romeo, der einfach keine Gefahren kennt. In Argentinien hatten wir einen Babysitter, ein paar Tage in der Woche, weil wir gemerkt haben, dass wir es sonst einfach nicht schaffen.
Hast du dir als Mutter auch schon überlegt, dass Luca zu wenig bekommt oder bekommen könnte, weil die ganze Aufmerksamkeit naturgemäss zu Romeo fliesst?
Das geht mir immer mal durch den Kopf. Geschwisterkinder von Kindern, die eine schwere Krankheit haben, nennt man Schattenkinder. Es gibt Eltern, für die ist das der absolut falsche Begriff. Ich würde Luca jetzt auch nicht als Schattenkind bezeichnen, das wäre effektiv falsch, aber es muss einem sehr bewusst sein, dass das «andere Kind» viel zurückstecken muss.
«Ich habe zurzeit schon das Gefühl, mich zu vernachlässigen.»
Du bist zweifache Mutter, studierte Lebensmittelingenieurin, arbeitest an der ETH (Eidgenössisch Technischen Hochschule) Zürich in der Weiterbildung. Daneben bist du Vorstandspräsidentin der Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz, die du auch gegründet hast. Und dann hast du noch dein übervolles Leben, das durch Romeos Krankheit sehr geprägt ist. Ich weiss nicht, ob die Frage zu banal ist, aber wie schaffst du das? Woher holst du deine Energie?
So genau weiss ich das nicht. Das haben Freunde mir schon gesagt, bevor ich eine Familie gegründet habe: «Du hast so viel Energie!» Ich weiss nicht, ob mir das in die Wiege gelegt worden ist. Und ich weiss auch nicht, ob ich genug Energie habe. Denn ich habe zurzeit schon das Gefühl, mich zu vernachlässigen. Ich schaue, dass alles irgendwie in die 24 Stunden eines jeden Tages reinpasst, ob es mir dabei gut geht, ist zweitrangig.
Dass du mal zwei Tage einfach weg könntest – ist das unmöglich?
Es ist möglich, und da bin ich meiner Ärztin sehr dankbar. Vor fünf Jahren schon hat sie mir nahegelegt, ich solle mir doch mal Ferien gönnen, als sie gemerkt hat, wie es mir geht. Ich antwortete ihr: «Das geht ja nicht!» Und sie widerum meinte, ich solle zwei Wochen fahren.
Nur du? Ohne Kinder?
Nur ich. Ohne Kinder. Ich habe sofort abgewehrt: «Ich schaffe das nicht.» Ich bin dann am Schluss 12 Tage ins Ferienhaus meiner Mutter gefahren. Das hat mir unglaublich gut getan. Ich musste lernen, loszulassen und darauf zu vertrauen, dass mein Mann es mit etwas Unterstützung auch alleine schafft. Seither hat sich das institutionalisiert. Im Jahr darauf bin ich mit einer Freundin in die Ferien geflogen.
Und da kannst du tatsächlich abschalten?
Wenn ich weit genug weg bin, geht es gut. Dann schlafe ich ganz viel und lange. Seit der Geburt von Luca habe ich nicht mehr so lange geschlafen.
Du hast die Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz gegründet, auch, um, dieses überhaupt bekannt zu machen. Da so wenige Menschen von diesem Syndrom betroffen sind, wird dazu kaum geforscht. Hast du den Eindruck, du kannst mit deinen Anstrengungen etwas bewirken?
Manchmal ist das Gefühl schon niederschmetternd, man sieht kein unmittelbares Resultat. Wenn wir nur mehr Forschungsgelder bekommen könnten, um diese in ein Projekt stecken!
Vor einem Jahr durftest du für dein Engagement von der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung den mit 10’000 Franken dotierten EPI-Preis in Empfang nehmen. Wofür hast du das Geld eingesetzt?
Die Hälfte des Preisgeldes habe ich der Vereinigung Dravet Syndrom Schweiz gespendet, für ein Forschungsprojekt. Die andere Hälfte habe ich in ein Tandemvelo investiert, auf dem Romeo, der ja selbst nicht Velo fahren kann, vorne sitzt und auch mittreten kann.
Wie ist das bei Kindern mit Dravet-Syndrom: Ist der Verlauf bei allen ähnlich?
Dravet ist eine sogenannte Spektrumserkrankung. Der Verlauf ist nicht bei allen Kindern gleich. Es gibt Kinder, die die Diagnose mit einer leichten Ausprägung haben und kaum je einen Status hatten, andere mit einer schweren Form und vielen Stati.
Man kann nicht sagen, warum genau die geistige Entwicklung eines Kindes schlechter ist als beim anderen. Es gibt Kinder, die wenige Anfälle haben, und trotzdem kognitiv nicht dort sind, wo man sie erwarten würde.
Es ist bekannt, dass der Gendefekt die schweren Anfälle verursacht und er ist auch dafür verantwortlich, dass das Gehirn sich nicht entwickeln kann, die Kommunikation zwischen den Nervenzellen nicht funktioniert, 24 Stunden am Tag nicht funktioniert.
«Die Welt ist keine Normlandschaft, in der alle genau gleich sind.»
Romeo geht auf eine Heilpädagogische Schule, seit kurzem auch zeitweise in die Regelschule, wie war das möglich?
Mhm. Es war ein langer Weg, ein Jahr Vorbereitung von der Idee bis zur Umsetzung.
War es deine Idee?
Ja, die Idee ist zufälligerweise entstanden, weil der Sohn einer Freundin von mir in einem Nebensatz einmal gesagt hat: «Wir haben ein Kind in der Klasse mit Down Syndrom, das ist aber nicht immer da.»
Romeo Vollzeit in die Regelschule zu integrieren wäre nicht möglich. Er braucht seinen Mittagsschlaf, er braucht seine Ruhezeiten, gewisse Fächer sind schlicht zu schwierig für ihn.
Zufall, oder wie auch immer, ich sagte also: «Aha, das hört sich nach Teilintegration an, ist das möglich hier bei uns im Quartier?». Da war mein Kampfgeist geweckt.
In welchem Quartier wohnt ihr?
In Zürich Wipkingen. Das Schulhaus Nordstrasse ist schon mit Preisen ausgezeichnet worden. Wir haben dann das Gespräch gesucht. Zunächst war nicht klar, ob unsere Idee wirklich umsetzbar wäre, weil man nicht wusste, in welche Klasse man Romeo integrieren sollte und ob die Lehrer überhaupt dazu bereit wären.
Dann hiess es plötzlich, dass Romeo zum selben Lehrer kommt, der die Klasse geführt hat mit dem Jungen, der das Down Syndrom hat. Alle lieben ihn heiss. Es ist aber nicht nur dieser Lehrer, auch seinen Teamkollegen gehört ein grosses Lob.
Im Moment sind sie zu dritt, wenn Romeo in der Schule ist: Sein Sozialpädagoge, die Heilpädagogin und der Klassenlehrer.
Das war sicher ein Riesenschritt, diese Integration von Romeo mit gleichaltrigen Kindern.
Ja, aber auch umgekehrt. Ich bin überzeugt, alle profitieren von der Situation. Die Schüler sehen: die Welt ist keine Normlandschaft, in der alle genau gleich sind. Ich fand es auch ganz toll, wie am ersten Elternabend die Lehrer gesagt haben: Die Kinder sind alle unterschiedlich und wir holen sie dort ab, wo sie sind.
«Dass Romeo keine wirklichen Freunde hat, schmerzt.»
Hattest du Reaktionen von den anderen Eltern?
Im Vorfeld wenige, und die, die ich bekommen habe, waren sehr positiv, dass sie sich freuen. Und als die Integration angefangen hat, kamen auch Rückmeldungen von den Klassenlehrern, es ist ein schöner Erfolg.
Und was für eine Reaktion gabs von ihm, von Romeo?
Von Romeo… Weil er ja nicht wirklich viel spricht, ist es schwierig, eine konkrete Reaktion zu benennen.
Redet er gar nicht?
Doch, er redet schon, einzelne Wörter oder kurze Sätze, aber man muss es ihm aus der Nase rausziehen, er kann auch nicht über Schmerzen reden oder so. Und er gibt keine Antwort auf: «Wie gefällt es dir?» Antworten auf für uns normale Fragen gibt er nicht.
Gefühle kann er nicht ausdrücken?
Das ist schwierig. Ich bekomme oft Fotos, ich sehe, was er macht, und ich habe ein gutes Gespür für seine Empfindung entwickelt. Im Allgemeinen habe ich das Gefühl, er geht gerne zur Schule. Ich bringe ihn an beiden Tagen morgens hin, und meistens ist er dann auf seine kindliche Art sehr schnell am Interagieren mit anderen Kindern, die ihn zum Teil kennen, zum Teil nicht.
Mit dem Handy nehme ich oft kleine Filmsequenzen auf, zum Beispiel auch das Begrüssungsritual der Schule. Das war unglaublich schön: Das ganze Schulhaus war involviert, auf dem Schulhausplatz waren alle Schüler, die neuen Schüler und die neuen Lehrpersonen liefen durch einen Bogen mit Blumenranken und die ganze Schule rief deren Namen.
Wenn dann plötzlich «Romeo» gerufen wird, der Name deines Kindes, das bisher nicht integriert war bei Gleichaltrigen – das geht tief, oder?
Ja, ich musste fast weinen. Und Romeo schaut ihn so oft an, diesen kurzen Film vom ersten Schultag. Es ist für ihn ein wichtiger Schritt, auch nur tageweise integriert zu sein.
Wir wohnen in einer Siedlung, wo es sehr viele Kinder gibt, die Romeo zwar auch schon seit acht Jahren kennen, aber trotzdem ist der Kontakt zu anderen nicht einfach.
Aber Romeo braucht gleichaltrige Kinder um sich. Unser Ziel ist die soziale Integration.
«Ich wünsche mir für Romeo, dass er mobil bleiben kann.»
Wird er jemals ausziehen und weg von Zuhause leben können?
Ohne Unterstützung: Nein. Wenn wir in die Epiklinik gehen, kommen wir jeweils an einem Haus vorbei, wo sie «begleitetes Wohnen» anbieten. Manchmal geht mir der Gedanke durch den Kopf. Dann überlege ich: Lebt Romeo vielleicht da, wenn er 20 ist? Ich weiss es nicht.
Was wünschst du dir für ihn?
Dass er ein solcher Sonnenschein bleibt, wie er es heute ist. Und dass er glücklich ist.
Wann ist er glücklich?
Musik macht ihn glücklich. Und er ist ein Zugfanatiker. Also gehen wir oft zum Hauptbahnhof, dann ist er glücklich. Als wir aus den Ferien kamen, hat jemand in der Bahnhofshalle ein Konzert gegeben, sogar ein Lied gespielt, welches er kennt. Das war für ihn ein unglaublich intensiver Moment. Und für mich auch.
Für seine Zukunft wünsche ich mir, dass er mobil bleiben kann, das ist nicht selbstverständlich, es gibt sehr viele Kinder mit Dravet Syndrom, die orthopädische Probleme haben, die zum Teil im Rollstuhl sind.
Und was wünschst du dir für dich?
Dass ich genug Energie habe. Was ich mir für mich wünsche, ist, dass ich etwas mehr Zeit für mich hätte, daran kann ich noch arbeiten. Es hat eine Gesetzesneuerung gegeben bei der IV, wir haben jetzt mehr Stunden zugute, IV-Assistenz, und das ist wunderbar…
Aber?
Aber ich möchte mein Kind nicht dauernd fremdbetreut haben. Ich möchte Zeit mit meinem Kind verbringen. Ich frage mich: Wie viele Stunden Fremdbetreuung sind ok?
«Es tut weh und wird immer weh tun.»
Euer Leben ist sehr komplex und du bist verständlicherweise ausgelaugt. Wenn du den Weg aber anschaust, den ihr als Familie gemeistert habt, hat dieser auch etwas Schönes hervorgebracht? War die Krankheit auch die Chance für etwas?
Man darf sich nicht fragen: Was wäre wenn? Das tut nur weh. Die Chance ist… ich konnte daran wachsen. Die wirklichen Prioritäten im Leben, die einfachen Sachen zu sehen und zu geniessen. Das kann ich jetzt, nach fast 10 Jahren, sagen. Das hätte ich vor fünf Jahren noch nicht gekonnt.
Hast du die Situation akzeptieren können?
Nun, das ist nicht so einfach zu beantworten. Es dauert einige Jahre, da ist viel Trauer bis zur Akzeptanz.
Ich bin heute so etwas wie «angekommen» in unserem Leben. Irgendwann hat man sich auf eine Art… «eingerichtet».
Ob ich dieses Leben akzeptiert habe? Ja, aber es tut weh und wird immer weh tun.
Jedes Mal wenn mir zum Beispiel wieder bewusst wird, dass Romeo keine wirklichen Freunde hat, nicht einmal in der heilpädagogischen Schule, schmerzt mich das.
«Romeo gehört zur Gesellschaft dazu.»
Als Mutter möchte man seinem Kind Schmerzen und schlechte Erfahrungen ersparen, auch wenn dies unmöglich ist.
Ja, ich hoffe, dass es irgendwann mal ein gleichgesinntes Kind oder einen jungen Erwachsenen gibt, der ähnlich funktioniert wie Romeo. Dass er einen Seelenverwandten oder eine Seelenverwandte findet.
Mittlerweile kann ich akzeptieren: Es ist halt einfach so, Romeo ist anders und speziell.
Ich habe heute viel weniger Mühe jemandem mitzuteilen: «Mein Kind hat eine Behinderung.» Früher hat man es vielleicht nicht sofort gesehen, aber unterdessen merkt man es Romeo an, wenn man nicht total blind durch die Welt geht.
Was es mittlerweile für uns auch einfacher macht: Im Kinderspital Zürich kennen uns mittlerweilen alle, und wir brauchen uns nicht mehr unendlich lange zu erklären.
Die Integration im Quartier hilft sicher auch. Romeo gehört zur Gesellschaft dazu: Vor kurzem mussten wir die Ambulanz kommen lassen, und noch beim Wegfahren kam von der Nachbarin ein SMS: «Können wir helfen?». Das sind solche kleinen Momente, die mir unglaublich gut tun.
Hilft es für die eigene Akzeptanz, wenn man rundherum spürt, dass Romeo akzeptiert wird?
Ja, und wie.
Deine beiden Söhne sind – auch wenn sie 7 Jahre trennen – entwicklungsmässig gesehen auf einem ähnlichen Stand. Was glaubst du, wie wird sich dieser Umstand auf die Brüder auswirken?
Wenn Luca Romeo überholt, wird dies für uns wahrscheinlich kein einfacher Moment. Er redet schon jetzt viel mehr als sein grosser Bruder. Mein Mann und ich, wir sind immer wieder erstaunt, was unser Dreijähriger alles macht und alles kann.
Was aber viel wichtiger ist: Die beiden Buben sind viel zusammen. Und auch jetzt in den Ferien, gab es einen Moment, der mich sehr berührt hat: Ich weiss gar nicht mehr, wer es war, ob es Romeo war, der die Hand von Luca nehmen wollte, oder umgekehrt.
Es war für mich einfach wunderschön zu sehen und ich dachte mir: Irgendwann, wenn es uns nicht mehr gibt, wird Luca Romeo führen können.
Text: Anna Maier
Bilder: Claudia Herzog
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Stefanie
Liebe Familie Heusser,
Dieser Artikel hat mich tief berührt! Er erinnert mich unweigerlich an unsere Zeit, als unsere Tochter ihren ersten Anfall hatte. Sie war 4 Monate alt. Ihr längster Anfall dauerte über eine Stunde und die Medikamente im Notfall führten nicht selten zu schweren Atemdepressionen. Sie war noch so klein. Wir haben noch einen größeren Sohn. Er ist gerade 6 geworden, und Noni wird 4 Ende November. Manchmal kann ich mein Glück gar nicht fassen, das sie all die Anfälle überlebt hat. Sie ist voller Lebensfreude und Energie. Der große Bruder hat jeher einen großen Einfluss auf ihre Entwicklung gehabt. So wie eigentlich all die großen Geschwister auf die jüngeren. Aber sicherlich auch umgekehrt ?! Ich bin mir sicher, dass diese besonderen Momente zwischen Luca und Romeo noch oft vorkommen werden! Die Liebe wird wachsen. Auch wenn die Geschwisterkinder meist zurückstecken müssen, so durchlaufen auch Sie eine besondere Entwicklung und spüren, daß das Leben ein besonders wertvolles Geschenk ist. Diese Erfahrung unterscheidet Sie von den gleichaltrigen. Mein Sohn passt so gut auf seine Schwester auf und ist auch sonst sehr Verantwortungsbewusst. Natürlich kanalisiert sich auch viel Wut in diesem Alter. Aber ich kennen das auch aus meinem Freundeskreis! Auch diese Jungs sind genauso. Auch ich fühlte mich so ausgebrannt, daß ich meine ganze Familie letztlich dazu überreden konnte konnte, meinen ganz persönlichen Traum zu leben. Ich dachte auch immer, nun würde mein ganzes Leben vorbestimmt sein mein behindertes Kind zu pflegen, nicht in den Urlaub fahren zu können, irgendwie nicht frei zu sein. Die Handtasche immer voll Medikamente, Sauerstoff und Monitor zu haben und kaum noch freie Momente für mich zu finden. Wir therapieren Antonia mit cbd Öl auf eigene Faust und ich setzte sie auf eine ketogene Diät seit dem ersten Lebensjahr. Sie war ein halbes Jahr Anfallsfrei, nun hat sie ca alle 2bis3 Wochen einen und wenn sie krank ist meist eine ganze Serie. Aber sie braucht kein dormicum mehr. Sie hat keine Staten mehr. Was für ein Meilenstein. Somit haben wir unser altes Leben komplett aufgegeben und Touren nun schon seit einem halben Jahr durch Europa. Gerade sind wir in Schottland, als mich dieser Artikel zu Tränen rührte! Mit beiden Kindern frei und ortsunabhängig zu leben ist unendlich wertvoll. Noni blüht auf, liebt es am Strand zu buddeln. Liebt es barfuß zu sein. Und wir lieben es, diese wertvolle Zeit zusammen zu haben. Egal was die Zukunft bringt! Es ist unbezahlbar! Wir haben alle Notfallmedikamente dabei, aber ich habe keine Angst davor durch die Hölle zu gehen, egal ob in Deutschland oder sonst irgendwo! Denn alles was uns glücklich macht ist bei uns. Wir leben in einem gemütlichen Wohnmobil, egal wie oft sich die Welt da draußen verändert, abends kehren wir immer wieder zurück an unseren vertrauten Ort, in unser Heim ?spätestens im Herbst 2019 müssen wir den Valentin nach deutschem Gesetz einschulen. Aber bis dahin bleibt noch viel Zeit. Vielleicht macht es euch auch Mut gerade wegen des behinderten Kindes die Träume zu leben, weil man so nah dran ist am „echten“ Leben. Weil man sich so bewußt ist, wie kostbar die Zeit ist! Und durch euch gewinne ich enorm an Mut und Glaubenskraft wenn ich höre, wie toll das mit der Schule und der Integration klappt! Danke für diesen wunderschönen Artikel und alles Gute für die Zukunft!