«In der Oper wird gebuht und gepfiffen wie auf dem Fussballplatz.» Andreas Homoki, 58, Intendant
Andreas Homoki, der stets locker in Jeans gekleidete Lockenkopf, ist ein Künstler durch und durch, modern und wild in seinen Ideen. Auch wenn er mal aneckt oder Buhrufe kassiert.
Er hat eine angenehm einnehmende Art: Aufmerksam lauscht Andreas Homoki den Fragen, lässt sich auf das Gespräch ein, ist offen und nimmt kein Blatt vor den Mund. Es ist offensichtlich, dass er eine andere Kultur pflegt als sein Vorgänger Alexander Pereira.
Während dieser 21 Jahre lang, gerne im Kreise der gehobenen Gesellschaft, den Glanz und die Glorie des Zürcher Opernhauses zelebrierte, sieht man den Regisseur und ausgebildeten Musiker Homoki eher bei den Proben und inmitten der Künstler als in der Intendanten-Loge.
Der gebürtige Deutsche mit ungarischen Wurzeln, der als Intendant die Komische Oper Berlin zur Oper des Jahres machte, kämpft an der künstlerischen Front gegen den allgemeinen Publikumsschwund. Mit Erfolg. Und dann und wann auch mit einem Buhruf. Wie kürzlich an der Premiere von «La forza del destino».
Ein Gespräch über die grossen und kleinen Dramen der Opernwelt und warum er keine Skrupel hat, unliebsame Entscheidungen zu treffen oder auch mal aus einer langweiligen Vorführung rauszulaufen.
«Ich bin kein Kontrollfreak!»
Anna Maier: Es ist nicht ganz einfach, Sie für ein einstündiges Gespräch aus Ihren Tätigkeiten rauszuschälen. Wie schaffen Sie es, dass die Leidenschaft für die Oper Sie nicht auffrisst?
Andreas Homoki: Ich bin selten gestresst. Delegieren zählt zu den Fähigkeiten eines guten Intendanten. Ich habe sehr viele der täglichen operativen Entscheidungsprozesse an meine Mitarbeiter abgegeben. Wir haben neun, zehn Neuproduktionen in jeder Spielzeit und 18 Wiederaufnahmen allein in der Oper, da kann man nicht alles selber machen – soll man auch nicht.
Meine Kernkompetenz liegt in der künstlerischen Arbeit als Regisseur. Sie prägt meine Sicht auf die Oper. Die für mich wichtigste Frage ist: Wer ist der oder die Richtige für eine Inszenierung?
Können Sie als bekennender Perfektionist, der selber auch noch Künstler ist und vermutlich überall reinschauen möchte, wirklich abgeben?
Ich bin kein Kontrollfreak. Es gibt aber klare Vorgaben, was mir wichtig ist. Innerhalb dieser Standards können und sollen meine Mitarbeiter selbstständig Entscheidungen treffen. Zum Beispiel die Besetzungen für rund 28 verschiedene Operntitel, die wir spielen. Wenn ich die alle kontrollieren wollte, würde das die Prozesse viel zu sehr verlangsamen.
Meine Mitarbeiter wissen aber sehr genau, wann sie mich besser fragen sollten, um sicherzugehen, dass etwas in meinem Sinne ist.
Das setzt voraus, dass man eng zusammenarbeitet. So sitzen beispielsweise meine Operndirektorin und ich gemeinsam in den Schlussproben jeder einzelnen Produktion. Da weiss man schon, was der Andere gut findet und was nicht oder was einen ärgert.
Sie sitzen in den Proben, damit die Abende Ihnen privat gehören?
Nein, sondern weil die Qualitätskontrolle in den Proben stattfindet. Ich muss nicht in jeder Vorstellung sitzen um zu wissen, dass die gut läuft. Viel wichtiger ist es, dafür zu sorgen, dass die Prozesse stimmen, die für eine überzeugende und stabile Vorstellung sorgen. Wenn ich dann den einen oder anderen Abend mit meiner Familie verbringen kann, freue ich mich natürlich auch.
«Ich verstehe schon, dass die Leute den Intendanten gerne in seiner Loge sehen.»
Ihr Vorgänger Alexander Pereira sässe häufiger in den Vorstellungen als Sie, hat man vor allem zu Beginn Ihrer Zeit am Opernhaus Zürich bemäkelt. Wie häufig schauen Sie sich tatsächlich die Vorführungen aus der Intendantenloge an?
Ich verstehe schon, dass die Leute es gern haben, wenn sie den Intendanten in seiner Loge sehen. Der Grossteil meiner Arbeit findet aber statt, bevor ein Stück oder meine Anwesenheit in der Intendantenloge vom Publikum gesehen wird.
Bevor ein Stück bei uns Premiere hat, habe ich die Produktion bereits mehrmals auf verschiedenen Proben gesehen. Nach der Premiere gehe ich dann noch ein paar Mal in die Vorstellungen.
Etwa die Hälfte der insgesamt 180 Vorstellungen, die wir allein in der Oper spielen, sind Neuproduktionen. Die restlichen 90 bestehen aus 18 Neueinstudierungen bereits bestehender Inszenierungen. Von denen schaue ich immer mindestens eine an. Das ist wichtig, denn die beteiligten Künstler wollen natürlich vom Intendanten wahrgenommen werden.
Wie merken Sie, dass jemand aussergewöhnlich gut ist?
Man merkt es, wenn man die Privatperson des Darstellers und ihre Einzelleistung vergisst. Ich nenne das Verwandlung. Alles geht in einem Gesamterlebnis auf und man nimmt die Geschichte mit einer ungeheuren Emotionalität wahr.
Genau darum geht es im Musiktheater. Leider findet genau das allzu oft eben nicht statt – weil zum Beispiel die Probenbedingungen nicht ausreichend sind.
«Die Oper hat etwas Rauschhaftes.»
Als Sie fünf Jahre alt waren, sahen Sie «Carmen» in Bremen. Ihr Vater spielte im Orchester als Klarinettist. Wurde damals der Grundstein gesetzt für die Faszination Oper? Was ist damals passiert?
Ja, ich fand vor allem die Musik toll. Diese Wucht von Orchester und Chor, diese emotionale Kraft, wenn die zusammen loslegen. Das fand ich speziell, es hatte etwas Rauschhaftes. Die Geschichte habe ich damals aber nicht wirklich verstanden.
Später mochte ich die Oper weniger, weil sie – wie ich es heute sehe – einfach unzulänglich präsentiert wurde, also schlecht inszeniert war – unglaubwürdig, langweilig.
Banal? Banalität fänden Sie ganz schlimm, hört man.
Ja, wenn es unglaubwürdig ist. Banal kann auch lustig sein, wenn es bewusst banal ist. Man kann auch Spass an Banalität haben, aber es muss alles im richtigen Kontext sein. Ich war als Teenager eher ein Kinofan. Bin ich bis heute geblieben.
«Ich merke schnell, ob eine Person mich zu berühren vermag.»
Haben Sie den Blick dafür, dass Sie jemandem ansehen, ob diese eine Person die Gabe hat, auf der Bühne zu stehen und die Leute emotional zu berühren?
Ansehen kann ich das einer Person nicht, aber ich merke schnell, ob eine Person mich zu berühren vermag. Wenn etwas passiert mit einer Figur.
Wenn man als Regisseur mit einem Künstler zum ersten Mal arbeitet, dann ist da ja zunächst mal ein fremder Mensch. Und ein hoffentlich gegenseitiges Interesse, etwas Schönes zu schaffen.
Es muss ein vertrauensvoller Austausch entstehen, damit der Darsteller spürt, dass ich ihn nicht einfach kritisieren will, sondern ich mir für uns beide einfach wünsche, dass er gut ist.
Da ich lange im Business bin, sehe ich zwar sofort, ob jemand Professionalität hat oder ob wir auf der gleichen Wellenlänge sind. Aber dann muss irgendwann der entscheidende Moment kommen, wo man spürt, dass der Mensch sich eben verwandelt und abhebt.
Darum geht es! Das muss auf der Bühne passieren.
Diese Verwandlung hat natürlich eine umso grössere Wirkung, je mehr Menschen es betrifft. Wenn das ein Ensemble aus drei, vier Personen ist, eventuell noch mit Chor und alle aufgehen in diesem Gesamten, dann kann das ungeheuer berührend sein.
Es entsteht ein Kollektiv – gemeinsam mit den Zuschauern.
Wenn das beim Zuschauer falsch ankommt, gibt’s aber auch Ablehnung. Dann führt die gesteigerte Emotionalität dazu, dass gebuht und gepfiffen wird wie auf dem Fussballplatz.
«Mit Buhrufen muss man leben.»
Gerade haben Sie selber vom Publikum Buhrufe erhalten für Ihre Inszenierung von Giuseppe Verdis «La forza del destino». Verdient?
Buhrufe gehören zu einer innovativen Inszenierung oft dazu. Besonders bei Inszenierungen, die mit althergebrachten Sichtweisen kollidieren. Damit muss man leben.
Wie fest trifft Sie eine solche Ablehnung des Publikums, vor allem in Anbetracht dessen, dass Sie und alle Beteiligten soviel Herzblut in die Sache gesteckt haben?
Das trifft nicht wirklich. Meist handelt es sich ja um eine heftige Kontroverse innerhalb des Publikums. Einige buhen, andere halten mit Bravos dagegen. Es soll sogar Regisseure geben, die engagieren extra Buhrufer um viele Bravos zu provozieren.
Was hat es damit auf sich, dass ein Fluch auf diesem Stück liegen soll, wie Sie bei der Premiere verlauten liessen?
Das Stück ist für alle Beteiligten sehr anspruchsvoll, die Gesangspartien sind geradezu übermenschlich schwer. Das führt zu Nervosität, Sänger werden krank, steigen möglicherweise aus. Auch hat das Stück dramaturgische Tücken, das alles macht den Produktionsprozess sehr verletzlich.
«Wenn ich mich langweile, geh ich in der Pause.»
Drama in der Oper. Wann passiert es bei Ihnen als Zuschauer, dass Sie rauslaufen?
Wenn ich das Gefühl habe, dass ich nicht ernst genommen werde. Aber natürlich laufe ich nicht aus der laufenden Vorstellung. Wenn es mich langweilt, geh ich in der Pause. Da ist mir die Lebenszeit zu kurz. Das stand sogar mal in der Zeitung.
Tatsächlich: Letztes Jahr waren Sie in der Premiere der Drei-Groschen-Oper am Zürcher Schauspielhaus und sind gegangen. In der Zeitung wurde bemängelt, dass Sie als Intendant des Opernhauses gegangen sind und nicht als Andreas Homoki.
Intendant sein hat aber auch seine Grenzen. Ich bin manchmal einfach Andreas Homoki.
Beruf und Berufung vermischen sich gerne. Können Sie eine Grenze ziehen?
Ja, und das tue ich auch. Natürlich ist man zurecht im Fokus, wenn man eine solch wichtige Institution repräsentiert. Man hat eine Verantwortung, nicht nur für 600 Mitarbeitende sondern auch für die allgemeine Akzeptanz dieser Kunstform, die ja sehr viel Geld kostet. 80 Millionen Schweizer Franken Subvention gibt uns der Kanton pro Jahr.
Und das reicht noch nicht mal…!
Und das reicht noch nicht mal. Da muss man noch dazu verdienen, denn insgesamt erwirtschaftet das Opernhaus 37% seines Etats selbst. Angesichts des hohen kantonalen Zuschusses ist es für mich nachvollziehbar, dass man als Intendant unter besonderer Beobachtung steht.
«Es wäre fatal, wenn ich nicht authentisch auftreten würde.»
Sie haben eine Doppelrolle. Einerseits sind Sie Künstler, andererseits müssen Sie sich darum kümmern, dass Subventionen und Sponsorengelder reinkommen. Wie schaffen Sie das, in diesen zwei extrem unterschiedlichen Welten zu bestehen?
Ich versuche eigentlich immer zu vermitteln, worum es mir geht. Wie bei einer Probe, wenn ich zum ersten Mal auf ein Ensemble treffe in einem Theater, wo ich ganz fremd bin. Ich erzähle, was ich will und versuche, die Menschen auf meinen Weg mitzunehmen und zu begeistern.
Mit Sponsoren verhält es sich eigentlich ganz ähnlich. Sponsoren sind Menschen, die Kultur unterstützen und die Kultur lieben. Die schätzen es unglaublich, wenn sie spüren, wer ich bin. Es wäre fatal, wenn ich nicht authentisch auftreten würde.
Und trotzdem: Es gibt wohl nicht so viele Branchen, die so unterschiedlich sind wie die Welt der Oper. Auf der einen Seite die Künstlern, die sich emotional präsentieren und auf der anderen Seite die Sponsoren, die ja häufig aus der rationalen Finanzwelt kommen. Politiker oder Wirtschaftsleute, die sich in einer komplett anderen Welt bewegen. Wo sind da die gemeinsamen Nenner zu finden?
Wenn man mit einer Führungspersönlichkeit zusammenkommt, egal aus welcher Branche, dann sind das immer Menschen mit starker Persönlichkeit. Menschen, die Probleme anpacken und Zusammenhänge verstehen.
Jemand, der nicht in der Lage ist, über den eigenen Tellerrand zu schauen, der wird weder ein grosser Künstler noch ein Leader.
«Ich bin Gott sei Dank nicht Teil eines Kunstwerks.»
Wie ambivalent sind Sie?
Wie meinen Sie das?
Zum Beispiel sagen Sie gerne, die Oper wird durch Kostüme zum Leben erweckt. Gleichzeitig laufen Sie selber uniformiert rum, seit Jahren mit derselben Jeansmarke und demselben Jackett, da fühlen Sie sich wohl drin. Das divergiert.
Ich muss ja nicht auf die Bühne. Ich muss mich in keine Figur verwandeln.
Es kommt immer wieder vor, dass Intendanten einen Coup landen wollen und einen prominenten Modeschöpfer für die Ausstattung engagieren. Das geht meistens schief, denn ein Kostümbildner soll keine schönen Kleider entwerfen sondern Figuren kreieren. Mit Kostümen erschafft man eine Welt.
Wenn eine Figur auf die Bühne kommt, muss ich sofort verstehen, wer das ist, was der für einen Charakter hat, wie verhält er sich gegenüber den anderen. Das ist ein hoch artifizielles Gebilde.
Ich selber bin Gott sei Dank nicht Teil eines Kunstwerks. Ich ziehe mich an, wie ich mich wohl fühle und wie ich finde, dass ich gut aussehe.
Wann hat das eigentlich begonnen, dass Sie entschieden: «Das ist die Jeans, die mir passt, die zieh ich jetzt immer an.»?
Naja, ich bin halt faul im Einkaufen. Ich habe übrigens mein Jeans-Modell gewechselt vor zwei Jahren.
Ach wirklich? Nicht mehr 501?
Ne, 511. Sie ist schmaler. Die habe ich mir zufällig mal gekauft, aus Versehen. Meine Frau hat dann gemeint: «Eigentlich sieht die besser aus.»
«Kinopausen sind eine wirkliche Pest, reiner Kommerz.»
Andere Ambivalenz: Sie gehen sehr gerne ins Kino, Sie hassen dort aber die Pausen. Und in der Oper – gerade, wenn man richtig drin ist – gibt’s eine Unterbrechung.
In der Oper sind die Stücke oft so konzipiert. Nach dem 1. Akt Lohengrin, da muss eine Pause sein, da ist ein Riesen-Aufbau mit grosser Finalwirkung. Da kann man nicht direkt weitergehen.
Meinen Sie das wirklich, oder ist das wie im Kino, dass man in der Pause eben auch lukrativ Getränke und Snacks verkaufen kann?
Wenn man ein kürzeres Stück mal ohne Pause spielt, fehlt der Umsatz aus der Pausengastronomie natürlich schon, aber eine künstlerische Entscheidung muss Vorrang haben.
Umgekehrt sind die Kinopausen in der Schweiz eine wirkliche Pest – reiner Kommerz, mitten im Satz wird abgebrochen. Neuerdings kommt sogar noch Werbung dazwischen, unerträglich! Deshalb gehe ich in Zürich fast nur noch ins Kosmos. Dort gibts keine Pausen.
Finden Sie persönlich, dass es bei der Oper dieses Rausreissen braucht?
Kommt auf das Stück an. Auch im Kino wollen Sie Ben Hur nicht ohne Pause sehen.
Gibt es Stücke, wo Sie sagen, da kommt nur über meine Leiche eine Pause rein?
Ja, Fidelio habe ich ohne Pause gemacht. Da haben wir aber die Dialoge alle rausgenommen und dadurch war die reine Musikdauer 1:50 – perfekt. Auch einige Puccini-Opern habe ich so gespielt – Manon Lescaut, Boheme und sogar Turandot.
«Niemand muss hier Rollen singen, die nicht zu ihm passen.»
Ich habe kürzlich mit einem Tenor, der an der Bayerischen Staatsoper war, ein Interview geführt. Er hat mir erzählt, wie er am Punkt des grössten Erfolges ein Burnout erlitt, weil er die Grenze nicht zog zwischen Beruf und Berufung. Sehen Sie das, wenn jemand in Ihrem Ensemble am Limit läuft?
Wenn ein Sänger müde ist, so hören wir das an der Stimme. Wir achten daher sehr drauf, dass unsere Künstler die Möglichkeit haben, sich zu regenerieren. Es gibt hier nicht diesen Druck wie in kleineren Theatern, wo Solisten fast jeden Abend singen müssen, weil die Personaldecke so dünn ist.
Ausserdem besetzen wir sehr fachspezifisch. Niemand muss hier Rollen singen, die nicht wirklich zu ihm passen, wie es aus finanziellen Gründen auch schon mal vorkommt.
«Manchmal schimpft mein Sohn und fragt: ‘Warum machst du das?’»
Man attestiert Ihnen, dass Sie das Opernhaus Zürich modernisiert haben. Sie bringen jüngere und neue Leute in die Oper. Trotzdem ist das sicher eines der grossen Themen, dass die ältere, treue Kundschaft kleiner wird. Wie schaffen Sie es, auch junge Leute für die Oper zu begeistern, wie zum Beispiel Ihren 20jährigen Sohn, der sehr film-affin ist. Bringen Sie ihn in die Oper?
Er kommt sogar sehr oft in die Oper und interessiert sich auch sehr dafür – vor allem für Inszenierungen. Wenn er merkt, dass eine Aufführung eher ein Vehikel für einen bestimmten Sänger und die Inszenierung eher mau ist, dann schimpft er und sagt: «Wieso machst du das?».
Er nimmt diese Kunstform ernst und beobachtet auch gut. Er hat dies von mir und seiner Mutter mitbekommen. Sie ist Sängerin und er hat sie schon früh auf der Bühne erlebt.
Es ist so, dass wir generell den Pool unserer potentiellen Zuschauer vergrössern müssen. Früher ging der Stammbesucher häufiger in die Oper als heute. Es gibt heute mehr Zuschauer, die hin und wieder kommen, aus einem grösseren Kulturangebot sehr stark auswählen.
Warum soll man denn in die Oper gehen?
Weil es ein Ort ist, der ein ganz singuläres, emotionales Erlebnis bieten kann. So schafft das tatsächlich kein anderes Medium. Das Schauspiel nicht, weil die musikalische Emotion, die Vergrösserung der Geschichte in diesem anderen Massstab fehlt, und das Kino schafft es nicht, weil es diese Direktheit nicht hat, man spürt das Vorproduzierte.
Die Faszination, dass etwas in diesem Moment passiert, über eine sängerische Leistung, die nicht nur grossartig gesungen, sondern eingebettet ist in einem Gesamtgefüge dieses Künstlers mit dieser Rolle, das ist etwas ganz Spezielles und das gibt es nur hier.
Leider ist es ungeheuer luxuriös, weil es viel Personal braucht. Es sind 600 Menschen in 450 Stellenprozenten.
«Leider ist die Oper ungeheuer luxuriös, weil sie soviel Personal braucht.»
80 Million Subventionen, 9 Millionen Sponsorengelder. Sie machen sogar Gewinn. Warum braucht es so viel Geld, dass der Betrieb aufrechterhalten werden kann?
Man braucht natürlich nicht für jede Form von Musiktheater so viel Geld. Was unser Theater auszeichnet, ist, dass wir 180 Opernvorstellungen anbieten pro Saison, in einer grossen Vielfalt – nämlich 28 verschiedene Titel, davon neun komplett neu inszeniert. Dazu kommen noch 50 Ballettvorführungen und drei Neuproduktionen.
Es gibt Opernhäuser mit nur 60 Aufführungen pro Jahr und nur fünf Titeln – wie in den USA oder auch in Frankreich und Italien, mit viel weniger technischem Personal und ohne eigenes Orchester und Chor. Aber es gibt auch Opernhäuser mit noch mehr Aufführungen und noch mehr Titeln – wie in Wien.
Die Frage ist, was für eine Art Musiktheater stelle ich mir vor? Wie wichtig ist mir die Genauigkeit der Einstudierungen, denn die bedeutet einen gewissen Zeitaufwand, was die Bandbreite des Angebots reduziert.
Ich stelle oft die rhetorische Frage, wie ein Opernhaus geführt werden müsste, um kommerziell rentabel zu arbeiten. Man müsste erstens weniger Neuproduktionen herausbringen, im Extremfall jeden Abend das gleiche spielen. Dann die laufenden Vorstellungskosten runterfahren. Nicht mehr 60 Leute Chor und 60 Leute Orchester sondern weniger Musiker und ein möglichst kleines Darstellerensemble. Wie am New Yorker Broadway oder am Londoner Westend.
«Die Alternative wäre die Abschaffung der Oper.»
Dort scheint die Rechnung aufzugehen.
Ja, das funktioniert, und da stehen auch ungeheuer viele Theater. Die spielen jeden Abend das gleiche Stück. Ein Jahr später kommen Sie wieder und die spielen immer noch das Gleiche.
Das funktioniert hier nicht. Wir spielen hier, Oper und Ballett zusammengerechnet, insgesamt 230 Mal im Jahr vor 1100 Leuten, jeden Abend. Mit «Cats» wäre ich nach einem Monat durch und keiner würde mehr kommen. So etwas funktioniert nur mit hunderttausenden von Touristen. Wir machen Theater für eine Stadt und Region, da müssen Sie Vielfalt gewährleisten.
Human Labour ist heute einfach sehr teuer. Musiktheater ist daher eine Kunstform, die von der Kostenseite her zwangsläufig unzeitgemäss ist. Es braucht den politischen Willen dazu. Die Alternative wäre die Abschaffung der Oper als lebendige Kunstform. Die gibt’s dann nur noch als Partitur oder CD.
Sie erwähnen die Zeitgemässheit. Sollte man nicht auch in der Oper vermehrt auf aktuelle Themen setzen, damit junge Leute nicht nur durch die Musik angelockt werden, sondern auch, weil da etwas passiert, dass für Sie Relevanz hat?
Tages-Aktualität ist schwierig abzubilden in einer Kunstform, die letztlich auf eine Langfristigkeit angelegt wird. Natürlich gibt es auch zeitgenössische Opernproduktionen, aber in der Oper geht es darum, Geschichten zu erzählen, die zeitlos sind und die gewisse Grundmuster unseres Lebens variiert darstellen.
«Die Oper soll nicht zum Museum verkommen.»
Die Opern, die wir heute in unserem Kanon haben, sind ja nur ein kleiner Teil der Stücke, die geschrieben wurden, und zwar die, die überlebt haben. Warum haben sie überlebt? Klar, weil sie aussergewöhnlich gut gelungen sind, aber auch, weil es um Themen geht, die uns heute noch berühren. Es gibt auch Opern, die vor 150 Jahren sehr erfolgreich waren und heute niemanden mehr interessieren.
Wichtig ist, die Stücke so zu interpretieren, dass Ihre zeitlose Aktualität zum Vorschein kommt. Sonst verkommt die Oper zum Museum und ein junger Mensch, der in die Oper geht sagt zu recht: «Spinnt ihr? Warum soll ich mir das angucken?» Wir Opernmacher haben die Pflicht, die Stücke immer wieder neu und kritisch zu hinterfragen, auch wenn sich bestimmte Operngänger aufregen, die gerne hätten, dass alles so bleibt, wie es früher war.
«Dann kam diese schlimme Geschichte, dass er sich vor Gericht verantworten soll.»
Der umstrittene russische Regisseur Kirill Serebrennikov würde am 4. November hier am Opernhaus Zürich debütieren. Er hat zurzeit aber Hausarrest in Moskau. Wie handhaben Sie diese Situation?
Ich habe Kirill vor anderthalb Jahren in Berlin kennengelernt, an der Komischen Oper. Wir sind ins Gespräch gekommen, ich habe mir Sachen von ihm angeschaut, er wiederum kam dann nach Zürich, hat sich unser Haus angesehen und schliesslich haben wir «Così fan tutte» von Mozart verabredet.
Ja, und dann kam diese schlimme Geschichte, dass er sich plötzlich vor Gericht verantworten soll und unter Hausarrest gestellt wird.
Das ist zunächst für ihn eine schreckliche Situation, aber auch für uns ein Problem. Wir müssen am 4. November schliesslich etwas auf der Bühne haben. Aber wir wollen ihm auch so lange wie möglich die Stange halten.
Wir hatten uns selber eine Deadline gesetzt: Wenn bis Mitte Februar 2018 noch keine Veränderung eingetreten und nicht absehbar ist, dass er rauskommt, dann werden wir einen Plan B aktivieren, indem wir auf eine bereits existierende Produktion zurückgreifen.
Dann kam diese Deadline und ich musste eine Entscheidung treffen, aber ich konnte nicht.
«Wenn alle Stricke reissen, bin ich auch noch da.»
Er wurde also nicht ersetzt. Es gibt keinen Plan B?
Ich habe auch mit meiner Familie darüber gesprochen und sowohl mein Sohn als auch meine Frau waren der Meinung, dass ich das nicht machen kann. Also sprach ich nochmals mit meinem Team und alle waren der gleichen Meinung: Wir führen das in jedem Fall durch!
Der Bühnenbild-Entwurf ist in Zusammenarbeit mit einem Bühnenbild-Mitarbeiter Kirill Serebrennikovs bereits erstellt, dieser Mitarbeiter wird dann auch hier vor Ort sein.
Dann gibt es einen Choreographen und einen Videoregisseur, mit denen Serebrennikov regelmässig zusammenarbeitet. Die sind in das Konzept eingearbeitet und bereits engagiert – die werden das Stück im Notfall mit den Sängern erarbeiten.
Natürlich wird das etwas anderes, als wenn er selbst vor Ort wäre, aber «Così fan tutte» wird am 4. November auf unserer Bühne stattfinden. Gegenüber dem Publikum habe ich meine Verantwortung damit gewahrt.
Für den Fall, dass alle Stricke reissen, bin ich dann auch noch da. Ich werde die ganze Periode über hier vor Ort bleiben.
Sie begleiten das Stück selber?
Ich habe Kirill versichert, dass ich immer wieder bei den Proben reinschauen werde und wenn es zu Problemen kommen sollte, werde ich den Jungs helfen. Ich bin sozusagen als zusätzliches Backup auch noch da.
«Ich habe ein klares Bild davon, was eine totalitäre Gesellschaft bedeutet.»
Einige sagen, dass Kirill Serebrennikov Staatsgelder veruntreut haben soll, andere sagen, an ihm werde ein Exempel statuiert, weil er staatskritisch sei. Wie sehen Sie die Situation?
Ich sehe das zweite.
Was können Sie für ihn tun?
Ich glaube nicht viel. Die russische Gesellschaft und die russischen Institutionen haben sich jetzt, mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Kommunismus offensichtlich damit abgefunden, in einer sehr viel autoritärer strukturierten Welt zu leben als wir im Westen es uns nach dem Ende der Sowjetunion vorgestellt und gewünscht hätten.
Von aussen her kann man da wenig machen, das führt nur zu den bekannten politischen Abwehrreflexen.
Ihre Eltern sind aus Ungarn, kamen nach Deutschland, wo Sie aufgewachsen sind. Was haben Sie von Ihrer Familiengeschichte mitgekriegt? Was haben Ihre Eltern Ihnen mitgegeben?
Naja, ich habe ein klares Bild davon, was eine totalitäre Gesellschaft bedeutet.
Wir waren regelmässig in Ungarn und ich habe natürlich vieles mitgekriegt. Auch wie dünn die Schicht des sozialistischen Establishments letztendlich war und wie reaktionär die Gesellschaft zum Teil geblieben ist, was Ressentiments gegen Minderheiten, Antisemitismus etc. angeht.
Das hat unter der Oberfläche weitergelebt, wurde nie richtig debattiert und verarbeitet und kommt jetzt erst hoch. Diese ganzen populistischen Tendenzen in Ländern des ehemaligen Ostblockes, die zeigen das.
Sind Sie noch regelmässig in Ungarn?
Mein Vater ist gestorben vor drei Jahren. Seitdem habe ich nur noch eine lose Verbindung zu Ungarn.
«Ich habe gesagt, ich würde das 10 Jahre machen. Aber ich bleibe noch.»
Sie sind jetzt 58. In zwei Jahren werden Sie 60.
60, das sind dann die Opas.
Zwei Jahre später wäre Ihr Vertrag am Opernhaus Zürich ausgelaufen. Jetzt wurde bekannt, dass Sie bis 2025 verlängern. Was möchten Sie unbedingt noch umsetzen?
Ich habe nicht das Gefühl, dass es grundlegende Dinge gibt, die ich verpasst habe. Ich geniesse es im Moment sehr, dass ich hier in Zürich meinen Beruf auf einem Niveau ausüben kann, das von der Qualität her nicht zu toppen ist: Noch dazu mit einer künstlerischen und finanziellen Freiheit, wie ich sie in keinem anderen Opernhaus der Welt haben könnte. Hier habe ich für mich die perfekte Schnittmenge erreicht.
Obwohl Sie während Ihrer Zeit hier doch ein paar graue Haare gekriegt haben…
Ach, da bin ich noch ganz gut bedient mit 58! Manche sind ja mit 45 schon weiss. Oder haben gar keine Haare mehr auf dem Kopf (lacht).
Text Anna Maier
Bilder: Claudia Herzog
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Beat Merki
Interessantes Interview mit Andreas Homoki der uns einen sehr schönen Einblick gibt wie es sich so hinter den Kulissen abspielt und wie viel Arbeit hinter jeder einzelnen Aufführlung steckt. Das richtige delegieren ist schon eine Kunst und fördert auch die Moral jedes und jeder Einzelnen in einem gut eingespielten Team und der Erfolg gibt ihm ja auch recht.
Wie immer hast Du all diese Aussagen in einem sehr schönen und gut zu lesenden Bericht an uns weitergegeben. Immer wieder schön und spannend Deine Interviews. Liebe Grüsse an Dich Anna.
Anna Maier
Ein spannender, vielseitiger Typ mit Charakter, dieser Andreas Homoki. Habe mich sehr gefreut, dass er sich ausführlich Zeit genommen hat für unser Gespräch und noch mehr, dass er mein Online-Magazin gekannt hat! Er meinte zu mir: „Sie sind die mit den wunderbaren Lebensgeschichten.“ Ein schöneres Kompliment hätte ich mir gar nicht wünschen können. Dir einen lieben Gruss zurück, Anna