„Ich möchte ein bisschen leiden.“ Michael von Hassel, Fotokünstler

Seine Bilder sind so wie sein Leben: Extrem und intensiv. Und so entstehen sie auch: In Sibirien, in Nordkorea, im Kaukasus. Der Münchner erklärt, weshalb er lieber nach der Einsamkeit sucht statt Menschen zu fotografieren, warum er seit dem Tod seines Vaters nicht mehr meditieren kann und was ihn bei seiner Reise nach Nordkorea in Angst versetzte.

Es gibt diese Momente im Leben, die durch Andersartigkeit unsere Aufmerksamkeit erregen. Wenn man inmitten von Menschen steht, es ist laut und heiss und irgendwie ist man überreizt von der Dauerberieselung und ein kurzer Lichtblick blitzt auf.

Ein solcher Augenblick war es, bald 13 Jahre her, beim deutschen Charity-Event „Tribute to Bambi“. Es klingt vielleicht etwas zu pathetisch, aber er sah aus wie ein Prinz mit seinem blond gelockten Haar und seiner adretten Kleidung, wie er da plötzlich vor mir stand. Ein flüchtiges Aufeinandertreffen nur beim Bestellen an der Bar.

Obwohl wir weder eine Konversation begannen geschweige denn Namen austauschten, blieb der Moment haften und wir trafen uns Wochen später im Netz wieder. Es entstand eine lose Freundschaft. Wir schrieben uns dann und wann.

Ich erfuhr, dass er eine illustre Familie hat, sein Grossonkel war Kai-Uwe von Hassel, welcher Präsident des Deutschen Bundestages war. Ein anderer Vorfahre: Graf Tilly, der als überlebensgrosse Skulptur in der Münchner Feldherrenhalle steht. Und so gibt es noch andere Mitglieder der Familie, die in den Geschichtsbüchern Erwähnung finden.

Michael von Hassel vor seinem berühmten Vorfahren, Graf Johann T’Serclaes von Tilly, Feldherrenhalle München

Es war die zu erwartende Akademiker-Karriere, die Michael von Hassel zunächst einschlug, Betriebswirt, kurzer Abstecher nach London, wo er als Banker mit Millionen handelte, bis er für sich ziemlich schnell erkannte: „Das hat so rein gar nichts mit Bohème zu tun.“

Er wurde Künstler. Seine allererste Ausstellung in einer Berliner Galerie wurde noch vor der Preview komplett von einem Sammler gekauft. Ein Glücksmensch.

Wir trafen uns hier und dort, wenn sich unsere Wege zufällig kreuzten. Das letzte mal an der Kunstmesse „Hot Art Fair“ 2009 in Basel, als er den Hot Art Award als „bester zeitgenössischer Künstler“ erhielt.

Als wir uns jetzt in München wieder begegnen für dieses Gespräch, erzählt mir Michael von Hassel, 40, dass diese Auszeichnung mit einem schlimmen Ereignis verbunden war.

Von Hassel vor Von Hassel im Sterne-Restaurant Tantris, München

„Es ist für mich einfach noch zu früh um loszulassen.“

Michael von Hassel: Genau an dem Abend, als ich diesen Preis gewonnen habe, ist mein Vater gestorben.

Anna Maier: Oh, nein …!

Ich hab‘ zu Hause angerufen. Meine Eltern haben mit ein paar Freunde auf der Terrasse gesessen, dann ist mein Vater nach oben gegangen und tot umgefallen. Das war’s dann. Das hat bei mir extrem viel verändert. Spätestens da habe ich kapiert: Nee, es gibt keine Sicherheit im Leben. Aber diese Unsicherheit verleiht mir heute eben auch ganz viel Stärke. Denn ich kann alles machen und alles werden, weil es keine Sicherheit gibt.

Was ist anders seit dem Tod deines Vaters?

Na ja, da ist diese Unruhe. Ich habe früher viel meditiert. Ich konnte mich in einen Zustand versetzen, wo halt alle diese irren Gedanken plötzlich mal für zehn Minuten zur Ruhe gekommen sind. Geht nicht mehr.

Und was machst du dagegen? Möchtest du nicht wieder in diesen Zustand zurück können?

Es ist für mich einfach noch zu früh um loszulassen. Ich glaube, ich möchte auch ein bisschen leiden.

Ist dies das Los des Künstlers?

Weiss ich nicht. Aber es ist halt mein Los. Es ist brutal schlimm für mich, weil wir uns in vielerlei Hinsicht so ähnlich waren. Ich denke häufig über Momente nach, die ich irgendwie traurig finde, weil ich etwas nicht gemacht habe.

„Deswegen will ich leben und all diese verrückten Sachen machen.“

Ich war zum Beispiel mal in L.A. für eine Serie über Oldtimer. Und da war ein weißer Rolls Royce mit weißen Ledersitzen und Weißwandreifen. Mein Vater meinte: „Kauf den doch und wir fahren den von der West- an die Ostküste und bringen ihn nach Deutschland.“ Ich frage also, was der kostet und dann war mir dieses Auto aber mit 5‘000 Dollar zu teuer, weil ich gesehen hatte, dass es den in Deutschland günstiger gab.

Heute frage ich mich, warum habe ich es nicht gekauft? Wie geil wäre das gewesen, mit dieser Scheisskarre irgendwo in der Wüste von Nevada liegen zu bleiben (lacht) … im weißen Rolls Royce mit meinem Vater. Und deswegen will ich leben und all diese verrückten Sachen machen.

Inwiefern seid ihr euch ähnlich gewesen, dein Vater und du?

Er war der, der mir das Fotografieren beigebracht hat. Alle meine männlichen Vorfahren, alle seit meinem Urgroßvater, haben fotografiert. Von ihm habe ich sogar noch Kameras.

Du führst die Familientradition weiter?

Mit einem Unterschied: Keiner war Fotograf von Beruf, keiner hat diese Kunst zu Geld gemacht. Die haben zwar alle ein Wahnsinnsgeld ausgegeben für Fotoequipment und sind weit gereist. Um 1900 herum nach Deutsch-Ostafrika, heute Tansania, sie haben da Farmen gehabt.

Das war für die damalige Zeit schon was komplett anderes, als heute da hin zu fahren. Und so ein bisschen in der Tradition sehe ich mich auch, ich versuche, noch die letzten Abenteuerchen zu finden, die es noch gibt auf dem Planeten.

„Wenn der Mensch ganz auf sich alleine gestellt ist, dann trennt er keine Nationalitäten.“

Hattest du es schon immer, dieses Abenteuer-Gen?

Abenteuer ist ein ziemlich großes Wort. Ich will sie halt einfach gesehen haben, die Welt. Letztes Jahr war ich in Nordkorea, im Juni fahre ich in den Kaukasus. Ich will ständig unterwegs sein, mir selbst eine Meinung bilden zu den Umständen vor Ort und die Menschen dort persönlich kennenlernen. Woher das kommt? Ich habe so eine Geschichte von meinem Opa erfahren:

Er war ein einfacher Soldat und bei der Belagerung von Leningrad dabei. Die war im Winter und sie hatten eine Art Stundenplan, nach dem geschossen wurde. Wenn sie frei hatten, so einen Tag in der Woche, dann sind sie immer auf die zugefrorenen Seen gegangen, haben sich ein Loch gemacht und mit einer selbstgebastelten Ausrüstung geangelt, damit sie was zu essen haben.

Irgendwann hatte er keinen Köder mehr. So ging er zu einem russischen Soldaten, der da sass, hat „Hallo“ gesagt und ihn – mit Hand und Fuß – gefragt, ob er ihm einen Köder leiht. Was der auch gemacht hat – und einen Schluck von seinem Wodka gabs obendrein.

Eine Woche später haben sie sich wieder getroffen auf dem gefrorenen See und dann meinte der Russe: „Komm, magst du nicht hier neben mir dein Loch machen um zu angeln?“ Von da an haben die immer zusammen geangelt.

Und so sind Menschen eigentlich, ja? Wenn der Mensch ganz auf sich alleine gestellt ist, dann kennt er keine Grenzen und trennt keine Nationalitäten. Ich bin der felsenfesten Meinung, dass es uns allen helfen würde, wenn wir uns gegenseitig mehr besuchen würden.

„Ich bilde mir eine eigene Meinung, bevor ich die von irgend jemand anderem übernehme.“

Ich war bis vor drei, vier Jahren zum Beispiel noch nie in Polen. Ich habe da also eine ausgiebige Reise hin gemacht und habe mir dieses Nachbarland sehr, sehr intensiv angeschaut. Und heute ist im politischen Diskurs schon wieder so viel Ärger, so viel Missstimmung, so viel Komisches. Und du wunderst dich, nach der Geschichte, die wir miteinander oder gegeneinander haben, dass so was jemals wieder auf kommt. Warum?

Also fahre ich da hin, schaue mir das an und bilde mir eine eigene Meinung, bevor ich eine Meinung von irgend jemand anderem übernehme. Und das gilt genauso für Nordkorea. Weil: Wenn du die Perspektiven wechselst und dich hineinversetzt in dein Gegenüber, dann wirst du ganz, ganz viel verstehen, was zur Konfliktlösung beiträgt.

Was hast du denn in Nordkorea verstehen gelernt?

Na ja zunächst einmal die Geschichte. Weißt du, warum Nord- und Südkorea getrennt sind? Korea, ganz Korea, war vor dem zweiten Weltkrieg 60 Jahre lang besetzt von Japan. Korea wurde seit Menschengedenken immer wieder überfallen von allen Nachbarn, die die haben. Von den Russen, von den Mandschuren, von den Han-Chinesen, von den Amerikanern sowieso, von den Japanern. Also sind sie grundsätzlich vorsichtig und etwas allergisch, was ihre Nachbarländer anbelangt.

Nach dem zweiten Weltkrieg war Japan komplett besiegt von den Amerikanern. So dachten die Koreaner: Jetzt sind wir auf der Gewinnerseite! Weil die Feinde von meinen Feinden sind ja meine Freunde. Und dann ist eine Abordnung von Beamten nach Washington gefahren und wollte mit dem US-Präsidenten über die Zukunft von einem geeinten Korea reden. Man hat die aber gar nicht angehört sondern mit Russland und mit der UN gemeinsame Sache gemacht und dieses Korea einfach aufgeteilt.

„Es ist der wohl am stärksten bewachte, bewaffnete Ort der Welt.“

Jetzt kann man das bei Deutschland noch ein bisschen nachvollziehen, dass das Land geteilt wird, oder geviertelt sogar, weil wir ja einen massiven Krieg angezettelt haben. Aber Korea hat niemandem etwas getan. Im Gegenteil: Die wurden 60 Jahre lang aufs Bitterschlimmste ausgebeutet von den Japanern. Und die Frauen wurden zu einem großen Teil zu Sexsklavinnen gemacht von den japanischen Soldaten, die Männer sind in den Minen umgekommen.

Das war ganz furchtbar, was mit diesem Land geschehen ist. Und dann teilen die USA und Russland – mit Hilfe der UN –  sich das Land einfach untereinander auf, weil sie es eben konnten, weil sie auch von diesem Kuchen noch etwas abhaben wollten. Und das machen die auch noch entlang einer Grenze, das war so eine Art Verwaltungsgrenze, die die Japaner schon gezogen hatten, dieser 38. Breitengrad.

Was ist da, ist da ein Zaun, eine Mauer?

Das ist ein Minenfeld. Da sind unglaublich viele Zäune und ein Minenfeld. Es ist der wohl am stärksten bewachte, bewaffnete Ort der Welt. Da stehen sich auf beiden Seiten gigantische Armeen gegenüber, feuerbereit.

„Das ist eine Atmosphäre, die ist unbeschreiblich schrecklich.“

Kann man da überhaupt hin?

Du kommst zwar vom Norden her ran, wenn du es schaffst, dass du so ein Reiseprogramm mitmachen kannst. Aber das ist nicht immer ganz einfach, weil die ändern das Programm quasi minütlich. Von Süden kann man viel besser hin und da gibt es einen Ort, eine Hütte, da stehen auf der einen Seite nordkoreanische Soldaten auf der anderen Seite südkoreanische Soldaten. Die stehen im gleichen Raum und gucken sich in die Augen. Den ganzen Tag. Das ist so ein theoretischer Grenzübergang, der aber faktisch keiner ist. Und auf südkoreanischer Seite stehen riesige Lautsprecheranlagen, damit werden Botschaften in den Norden gesendet, in der Hoffnung, dass das irgendwelche Nordkoreaner hören.

Was hast du mitgenommen von dieser Reise?

Oh, ich habe ganz viel für mich mitgenommen. Zunächst einmal, ich wollte mir dieses Land einfach anschauen. Das ist so anders als alles, was wir kennen. Das wollte ich mal erlebt haben. Eine Freundin, die ich in Wladiwostok kennengelernt habe, die hat gesagt: „Wir fahren nach Nordkorea, wenn wir uns daran erinnern wollen, wie schlimm alles früher mal war. Damals, als die halbe Welt in so einem Zustand war.“ Ostblock. Und da gibt’s das eben noch. Diese totale Überwachung, die totale Unfreiheit. Das ist eine Atmosphäre, die ist unbeschreiblich schrecklich.

Das hast du auch so erlebt?

Ja. Ich war zehn Tage da, da passiert ja auch ganz viel mit dir. Nämlich hauptsächlich zwei Dinge: Am Anfang denkst du noch, ich habe hier meinen deutschen Reisepass, ich fahre einfach wieder. Oder: Wenn die mir blöd kommen, irgendeiner, dann fliege ich hier maximal raus.

„Oben an der Decke ist eine Kamera. Eine winzig kleine. Aber sie ist da.“

Und dann passieren diese Dinge. Dein Begleiter sagt zu dir: „Michi, du hast noch gar nicht zu Hause angerufen. Ruf doch mal zu Hause an. Du hast ein Telefon in deinem Hotelzimmer.“ Am nächsten Tag sagt der das nochmal: „Dass du immer noch nicht zu Hause angerufen hast! Ruf doch mal an.“

Dann denke ich mir, gut, ich kann in der Tat mal meine Mutter anrufen und ihr sagen, dass es mir gut geht. Also nehme ich den Telefonhörer ans Ohr und dann gibts da so Knackgeräusche, wie in einem schlechten Agentenfilm. Dann sage ich meiner Mutter: „Hörst du auch die ganze Zeit dieses Knacken? Ein Knacken, wie aus den Filmen. Knacken!“ In der Hoffnung, dass sie nichts falsches sagt am Telefon.

Du konntest ihr auch keine Whatsapp zur Vorwarnung schicken, weil es kein Internet gibt.  

Du hast kein Internet dort. Dein Telefon darfst du behalten, aber es funktioniert nicht. Dann legst du auf, schaust dich in deinem Hotelzimmer um und stellst fest: Oben an der Decke ist eine Kamera. Eine winzig kleine Kamera. Aber die ist da. Und die ist auf dein Bett gerichtet. Dann versuchst du, den Tisch von der Wand zu ziehen und da drunter zu stellen, um hoch zu steigen.

Ging nicht?

Der Tisch ist an der Wand festgeschraubt. Du kriegst die ganze Zeit so kleine Nadelstiche. Und jeden Tag passiert wieder eine Kleinigkeit. Plötzlich bekommst du Angst: Ich bin hier mit meinem deutschen Reisepass nicht sicher, ich bin überhaupt nicht sicher. Dann sind mir noch ein paar weitere Sachen passiert. Zum Beispiel, als wir unterwegs waren im Skigebiet, das die da gebaut haben. Wir sind da Ski gefahren. Der absurdeste Moment meines Lebens.

„Soldaten, welche mit der Hand Eis von der Straße klopften.“

Warum?

Die haben dieses Skigebiet von Hand gebaut, mit gewaltigen Menschenmassen. Die sind mit dem schweren Lastwagen nicht den Berg hochgefahren. Stattdessen haben die zu hundertst den LKW den Berg rauf geschoben, vielleicht um Sprit zu sparen? Flüsse haben die mit der Hand umgeleitet. Und aussenrum ist die absolute Form von Armut.

Die Fahrt ins Skigebiet dauert den ganzen Tag. Auf einer unglaublich breiten Straße, die mit Schlaglöchern übersäht ist. Da fährt so gut wie kein Auto, über hunderte von Kilometern. Auf der Strasse gabs damals fünf Zentimeter dickes, knüppelhartes, blitzeblankes Eis.

Man hat aber nicht etwa, wie man das in Mitteleuropa machen würde, in der Früh einen Salzstreufahrzeug geschickt um die Straße befahrbar zu machen. Die haben an dieser Strecke an die 2000 Soldatinnen und Soldaten verteilt, welche mit der Hand, mit Messern, mit handgemachten Stecken und Schaufeln dieses Eis von der Straße klopften.

„Wer war in Zimmer 651?“

Und was ist auf diesem Trip vorgefallen?

Eine Bekannte von mir hatte einen großen Artikel auf Spiegel Online über meine Reise durch Sibirien veröffentlicht.

Der war zu dem Zeitpunkt gerade erschienen und ich wollte mich irgendwie bedanken. Im Hotel war ein richtig schöner, schön gemachter Prospekt, ein Werbeprospekt über das Skigebiet und das Hotel. Und da dachte ich mir, das ist doch ein tolles Mitbringsel für sie, weil sie ja in der Reiseredaktion beim Spiegel arbeitet. Also habe ich den eingesteckt.

Am Abreisetag fuhren unsere Busse nicht los und wir sassen ziemlich lang im Schneesturm. 60 Leute waren wir. In drei Vans. Der Schneefall wurde immer schlimmer und wir hätten in die Hauptstadt gemusst. Stattdessen standen wir einfach da. Wir haben uns alle gewundert, warum wir nicht fahren.

Plötzlich kommt der Oberdirektor von dem Hotel raus und redet mit unserem Hauptreiseleiter. Dann kommt dieser in unseren Bus und macht die Durchsage am Mikrofon: „Wer war in Zimmer 651?“.

Und das warst du?

Das war ich. Oh Gott!, dachte ich, was ist denn jetzt?! „Es wurde ein Hotelprospekt geklaut.“ Wir kannten ja alle diese Geschichte des US-Amerikaners Otto Warmbier, der damals ein Plakat abgerissen hatte und zu 15 Jahren Haft in einem nordkoreanischen Arbeitslager verurteilt wurde.

„Ja, natürlich hast du Angst. Du kriegst richtig Schiss.“

Ich so: „Nein, nein, das ist ein Werbeprospekt. Das ist Werbung, das ist zum Mitnehmen gedacht! Ich wollte Werbung machen für euch bei uns in Deutschland.“ Die Antwort war: „Das Konzept „Werbung“ gibt es nicht in Nordkorea, deswegen ist das ein Diebstahl.“ – Ich war wie paralysiert: „Ich kann es sofort zurückgeben! Es war nicht so gemeint, es war ein Missverständnis. Es tut mir total leid.“

Ich bin dann rausgesprungen zum Koffer, hab das Ding rausgewurschtelt und es sauber gemacht. Dann habe ich es dem Hoteldirektor mit einer tiefen Verneigung zurückgegeben, mich nochmals entschuldigt und er sagt – auf Deutsch! -: „Ist in Ordnung“, dreht sich um und geht. Der Geheimdienstler geht mit.

Nach zehn Minuten kommt dieser wieder aus dem Haus raus und hat diesen Prospekt wieder mit dabei: „Hier, ein Geschenk. Habe ich dir gekauft, für zehn Euro.“ Ich denke: Oh Gott, zehn Euro! Das ist bestimmt, weiß ich nicht, drei Monatsgehälter für den, oder noch mehr. Als ich Geld rausziehe und ihn zahlen will, lehnt er strikt ab: „Nein! Beleidige mich nicht! Das ist ein Geschenk!“

Hat man da Angst, in so einer Situation?

Ja, natürlich hast du Angst. Das ist eben das, was mit dir passiert. Du kriegst richtig Schiss.

Und das zweite, was mit dir passiert in so einem Land: Die bearbeiten dich jeden Tag, 24 Stunden. Sie quatschen immer, alle, hinter dir, vor dir, erzählen dir, wie toll alles ist. Propaganda in höchster Form. Du fängst das ziemlich schnell an zu übernehmen. Irgendwann findest du es nicht mehr so schlimm. Und erst, wenn du den Abstand wieder hast, dann denkst du noch mal drüber nach, über diese und jene Gelegenheit und merkst: „Das ist total absurd, dass ich das nicht schlimm fand. Wie kann das denn sein?“

„Man fragt sich: Wer ist das?“

Durftest du dort eigentlich frei fotografieren, was immer du wolltest?

Jein. Es wurde immer wieder gesagt: „Hier auf gar keinen Fall!“ Aus Gründen, die uns entweder erklärt worden sind oder eben nicht. Ab und zu habe ich etwas fotografiert und dann kommt jemand und trägt die Kamera weg oder hält sie zu und sagt: „Das nicht!“, obwohl vorher noch gesagt worden war, ich dürfte.

Manchmal waren das unsere Leute und manchmal waren das Leute, die wir nicht kannten, die einfach der Straße entlangliefen und für uns aussahen wie Passanten. Plötzlich kommt einer her und sagt auf Deutsch: „Sie dürfen das nicht!“ Man fragt sich: Wer ist das? Warum kommt der jetzt von da hinten vom anderen Ende des Platzes hierher zu mir gelaufen und erzählt mir irgendwas?

Wie weit geht deine Risikofreudigkeit?

Die wird grösser. Was ich erstaunlich finde. Aber ich finde es einfach wichtig, solche Dinge zu erleben und auch ein bisschen darüber erzählen zu können. Und dafür zu werben, dass man miteinander kommuniziert. Ich bin auch heftig kritisiert worden dafür, dass ich da hin fahre, weil ich eben mit meinem Geld dieses System stützen würde. Na ja, das waren jetzt für zehn Tage mit Flug, mit jedem Essen, mit jedem Glas Bier, 1‘700 Euro, das ist jetzt nicht die Welt, ja?

Auf der anderen Seite hatte ich einen Plan. Es war mir schon klar, dass ich da nur Menschen treffe, die das System für gut befindet, und die Geschichten, die sie mir erzählen, auf dessen Linie sind. Aber das sind ja trotzdem auch Menschen. Ich habe mir vorgenommen, ganz normale Fragen zu stellen wie: „Wo kriegst du neue Klamotten her? Es gibt hier keine Geschäfte. Kein einziges. Kein Klamottenladen, kein Kaufhaus, auch keine Restaurants. Wie funktioniert das?“

Dann erklärt der dir das: „Ja, wir haben regelmässig einen Klamottentag in der Firma, wo wir arbeiten, oder in dem Amt oder im Ministerium. Dort kriegst du Klamotten zugeteilt. Genauso in der Schule.“ Und dann kriegen sie halt irgendwie einmal im Jahr zwei neue Hemden und alle drei Jahre ein Jackett und alle fünf Jahre eine Hose und alle sieben Jahre gibts einen Wintermantel.

„Wenn den Koreanern etwas unangenehm war, dann haben sie das Gespräch sofort abgebrochen.“

Meine Hoffnung war – was dann auch passierte -, dass eine Gegenfrage kommt. Wie kriege ich denn neue Klamotten? Und dann habe ich erzählt, wie wir das machen: Du gehst bei uns in die Innenstadt und in größeren Städten gibts viele Geschäfte. Für bunte Klamotten, graue, schwarze, für teure, billige, für große Menschen, kleine, dicke, dünne …

Und wenn wir da überall nichts finden, dann kannst du auch genauso ins Internet gehen, mit dem Telefon oder mit dem Computer. Da kannst du dir alles bestellen, was es gibt auf der Welt. Und dann ist das in ein paar wenigen Tagen bei dir zu Hause mit der Post.

Bei den Koreanern ist es immer so gewesen, wenn denen irgendwas unangenehm war, dann haben sie das Gespräch sofort abgebrochen und sind gegangen. Aber meine Hoffnung war halt, dass einfach nur dieses Gespräch zwischen uns beiden etwas auslöst. Vielleicht nimmt er irgendwas mit. Und das sorgt dann für irgendeine Veränderung. Im besten Fall für eine Verbesserung, vielleicht.

„Ich will diesen Ort nur für mich haben. Da stören Menschen einfach.“

Du bist ein sehr kommunikativer Mensch, kommst mit Fremden leicht ins Gespräch, findest einen persönlichen Zugang. Du wärst doch prädestiniert, um Menschen zu fotografieren. Warum machst du das nicht gerne?

Das kann ich dir sagen: Weil mein Leben schon sehr gesellig ist. Nur ein Prozent davon fotografiere ich tatsächlich. Und da will ich einfach meine Ruhe haben, den Abstand und nur mit meinen Gedanken sein können. Ich will diesen Ort nur für mich haben. Da stören Menschen einfach.

Malst du dir manchmal aus, was du noch erreichen möchtest?

Nein.

Nein? Wirklich nicht?

Nee. Ich will eigentlich nichts haben. Ich brauche auch nix. Ich brauche keine Statussymbole, ich brauche kein dickes Haus, lieber weniger, von allem weniger … Was ich schön fände ist so ein ganz kleiner Ort von Ruhe, weit weg in den Bergen, völlig unspektakulär mit einem Kräutergarten. Das wär so was.

„Das wäre toll, wenn du etwas in der Welt hinterlassen kannst.“

Oder doch, einen Traum hab ich: In München gibt es das Schumanns, das ist ein legendärer Ort. Und da gibt’s eine große Bar mit einer freien Wand. Ich würde einfach wahnsinnig gerne mal ein Foto vom Schumanns machen, das dann da oben hängt. Aber ich bin viel zu ehrfürchtig.

Aber warum da? Oder ist es einfach die leere Wand, die danach schreit, dass dort ein Bild von dir hinkommt?

Nun, ich wollte als Kind Architekt werden. Ich dachte mir, das wäre toll, weil du da einfach so ein paar Minuten lang etwas in der „Welt“ hinterlassen kannst. Es bleibt ein bisschen was von dir übrig, wenn du mal nicht mehr da bist. Und ich glaube, dass das so ein bisschen mitschwingt, dass man sich an so einem Ort verewigt.

Das muss aber bei mir nicht irgendwie ein MoMa-Museum (Museum of Modern Art in New York) sein, sondern eben eine vertraute Bar, die finde ich irgendwie wertvoller. Ich finde es toll, dass man da sein kann, wo ein sehr bunter Menschenmix den Alltag ausklingen lässt. Das finde ich gut. Nee, aber sonst habe ich keine Träume.

www.michaelvonhassel.de

Text: Anna Maier

Bilder Nordkorea: Michael von Hassel

Bilder: Jessica Kemper

Newsletter

Melde dich für den Newsletter an und ich informiere dich über jeden neuen Artikel, der auf KeinHochglanzmagazin erscheint.

Vielen Dank. Bitte klick auf die Bestätigungsmail die ich dir gerade gesendet habe. Erst dann ist die Anmeldung abgeschlossen.

Hoppla, etwas ist schief gelaufen...

1. April 2018
„Für die Freiheit war ich bereit, mein Leben zu opfern.“ Leslie Mandoki, Musikproduzent
1. April 2018
«Ich habe schmerzhaft wahrgenommen, dass etwas fehlt.» Nina Ruge, Moderatorin und Buchautorin

Kommentare

  • Avatar
    Beat Merki
    REPLY

    Einmal mehr ein sehr interessantes Interview das Du da publizierst Anna, Sehr interessant sind, unter vielen anderen, die Aussagen von Michael von Hassel über Korea, das gibt einem einen interessanten Einblick über ein Land das ich bis jetzt nur von den Berichten her kannte. Die Aussage ganz zum Schluss dieses Interviews kann ich noch ganz gut verstehen, nämlich das mit dem kleinen unspektakulären kleinen Ort in den Bergen, an sowas habe ich auch schon oft gedacht zum sich einfach mal von allem zurückziehen. Danke Anna für diesen tollen Bericht.

    1. April 2018

Kommentar hinterlassen

Deine E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht. Pflichtfelder sind gekennzeichnet durch *

Send this to a friend