«In der Oper gibt es tiefe Gefühle, die man im Leben nicht erlebt.» Sabine Appenzeller, Musikpädagogin

Als 5jährige spielte Sabine Appenzeller Opern mit Lego nach, heute als 50jährige ist sie als „gute Seele“ des Opernhauses Zürich ein wichtiger Teil davon. Wie die Musikpädagogin mit «Opern-Groupies» umgeht und warum sie ihren Traum, professionelle Opernsängerin zu werden, nicht verfolgt hat.

„Als Opernfan hat man sicher auch eine theatralische Seele.“

Anna Maier: Wann wurden Sie mit dem Opernfieber infiziert?

Sabine Appenzeller: Das war ganz früh. Meine Eltern sind zwar keine Berufsmusiker, aber grosse Opernfans, speziell mein Vater. Heutzutage würde man sagen, er habe uns schon fast brutal mit in die Oper geschleppt.

In welchem Alter?

Ich glaube, ich war schon mit fünf Jahren in der Zauberflöte. Ich habe zwei Brüder und es hat uns alle immer wahnsinnig fasziniert. Wir haben zu Hause ganze Opernszenen nachgespielt mit Lego. Wir haben alle mindestens zwei Instrumente gespielt, was von unseren Eltern sehr gefördert wurde.

Was haben Sie gespielt?

Querflöte und Klavier.

Die durften Sie aber selber auswählen?

Ja, das schon. Es war kein Terror. Aber meine Eltern haben geschaut, dass wir sehr viel Kontakt zu klassischer Musik haben.

Welche Menschen sind empfänglich für die Oper? Was braucht es, damit man eine Leidenschaft dafür entwickeln kann?

Gerade für die Oper muss man den Gesang gern haben. Wir haben viel gesungen zu Hause, das war wie selbstverständlich. Man muss sicher auch eine theatralische Seele sein. Wir gingen natürlich auch in die Tonhalle, aber das hat uns alle viel weniger fasziniert, wenn man nur die Musik hört. Das Zusammenspiel von Theater und Dramatik in diesem schönen Haus ist ein Paket, was bei mir und bei einem meiner Brüder total eingeschlagen hat. Er ist auch Musiker. Manchmal frage ich mich heute noch, warum das so funktioniert hat. Wir fahren voll auf die Oper ab und wurden beide Musiklehrer.

„Mich faszinieren die Stimmen! Dass Menschen so laut und so schön singen können.“

Opernhaus-Intendant Andreas Homoki beschreibt die Faszination der Oper durch die Direktheit des Augenblicks. In diesem Raum passiere etwas, das nur die Anwesenden mitkriegen. Konnten Sie diesen kunstvollen Ansatz schon als Fünfjährige verstehen?

Mich haben einfach immer die Stimmen fasziniert. Dass Menschen so laut und so schön singen können. Ich kann mich noch an Inszenierungen von vor sehr langer Zeit erinnern. Das Zusammenspiel von Theater und Musik kommt im besten Fall so gut zusammen, dass es einem in Erinnerung bleibt. Die Musik alleine fasziniert die Leute weniger. Das Theater alleine schafft es auch nicht in diesem Ausmasse. Es ist die Oper, die alles zusammenbringt. Auch das Haus hat eine Ausstrahlung. Früher waren die Leute noch viel schöner angezogen, wenn sie in die Oper kamen.

Sie trugen damals mit fünf Jahren bestimmt Lackschuhe für in die Oper?

Ja, auf jeden Fall. Mit fünf Jahren habe ich die Zauberflöte gesehen und dann peu à peu immer mehr. Meine Eltern haben die Stücke geschickt ausgewählt. Ich ging jetzt nicht mit sechs Jahren einen Wagner schauen. Sie haben uns auch immer sehr gut darauf vorbereitet. Wir haben das zu Hause durchgesungen.

Ach, wirklich?

Ja. Mein Vater hat super gut Klavier gespielt und wir haben dazu gequäkt oder, so gut es ging, gesungen. Wir haben die Stücke also schon gekannt. Ich finde das wichtig. Wenn man die Melodien schon kennt, dann kann man sich an etwas festhalten.

Was haben Ihre Eltern beruflich gemacht?

Mein Vater ist Jurist und meine Mutter Gymnasiallehrerin. Aber die Musik war immer wichtig. Frühe Erinnerungen sind, dass meine Eltern zum Beispiel vierhändig Klavier gespielt haben. Es hat manchmal fast ein bisschen genervt, aber sie haben wirklich stundenlang vierhändig Schubert gespielt. Es war einfach immer wichtig. Es war ihnen auch wichtig, uns das weiterzugeben.

„Kinder machen keinen Unterschied zwischen klassischer und Pop-Musik. Bei der Pop-Musik kommt natürlich das ganze Brimborium dazu.“

Heute sind Sie verantwortlich für die Musikvermittlung im Opernhaus und in der Tonhalle, im Alter von 44 Jahren haben Sie eigens dafür einen Master gemacht. Eigentlich tun Sie heute für andere Kinder, was Ihre Eltern früher für Sie gemacht haben.

Ja, das kann man so sagen. Ich arbeite neben meinem Engagement an der Oper Zürich auch in Zürich Schwamendingen und arbeite dort als Lehrerin für musikalische Grundschule. Das sind alles Erst- und Zweitklässler. Zum Teil mache ich auch Projekte in Kindergärten. Das ist sehr auf klassische Musik ausgerichtet. Natürlich macht man heute auch Andrew Bond Songs und so, aber für mich ist besonders wichtig, dass man bei den Kindern die Freude am Singen weckt, damit es zu etwas Selbstverständlichem wird.

Aber in einer Zeit, in der es in allen Länder Gesangscastingshows gibt, singen die Kinder doch viel lieber Pop-Songs. Auf wie viele offene Ohren stossen Sie in der Grundschule mit klassischer Musik?

Es ist natürlich nicht so, dass wir Pop total ausblenden, aber ich stosse schon auf sehr offene Ohren. Ich wähle die klassische Musik natürlich auch geschickt aus. Die Musik selber berührt die Kinder dann direkt. Jetzt haben wir gerade Mozart als Thema. Alleine das Leben dieses Menschen hat etwas Theatralisches, womit man gut arbeiten kann. Wir schauen an, was er als Kind geschrieben hat, was er als Erwachsener geschrieben hat und so weiter. Wenn man so einen Zugang findet, dann kann man die klassische Musik gut rüberbringen. Ich habe nicht das Gefühl, dass die Kinder von Anfang an einen Unterschied machen zwischen klassischer und Pop-Musik. Bei der Pop-Musik kommt natürlich das ganze Brimborium dazu.

Das könnte man von der Oper auch behaupten, oder?

Genau, einfach ein bisschen anders. Man kann jetzt auch nicht sagen, dass man Mozart besser vermitteln kann als neue klassische Musikstücke. Da sind Kinder viel offener als Erwachsene. Wir sagen dann schnell einmal, «Neue klassiche Musik ist viel zu schwierig, zu hören», aber wenn man den Kindern einen Haken gibt, an dem sie sich festhalten können, dann können die das sehr gut hören und verstehen.

Gibt es Menschen, die man über die Musik nicht erreichen kann?

Mir ist, glaube ich, noch nie jemand begegnet. Vielleicht Jugendliche in der Pubertät. Aber das hat meistens andere Gründe, die finden das oft nicht cool genug, an klassischer Musik interessiert zu sein. Aber ich glaube, es gibt für jeden Menschen eine Musik, die ihn anspricht.

Sie arbeiten seit 30 Jahren hier an der Oper Zürich, gelten als «die gute Seele» des Hauses. Treten Sie anders ein als früher, als Sie es nur zu Vorstellungen besuchten?

Ja. Auf eine gewisse Art schon. Wenn ich hier ins Haus komme, dann kenne ich alle. Kürzlich war ich an der Scala in Mailand und das war für mich dann wirklich ein Opernbesuch. Es konnte mir egal sein, ob jemand zu spät kommt. Ich war einfach da, um die Oper zu geniessen.

Haben Sie Alexander Pereira besucht, der während 20 Jahren der Intendant des Opernhauses Zürich war und heute diese Position in Mailand besetzt?

Nein, er war nicht da.

Man sagt, dass die Oper unter ihm einen grossen Glamour-Faktor hatte. Wie erlebten Sie die Zeit mit ihm als Intendanten? Wie hat sich die Oper aus Ihrer Sicht in den letzten drei Jahrzehnten verändert?

In unserem Alltag hat sich tatsächlich nicht so viel verändert. Glamour und das sogenannte Regietheater gab es damals wie heute, mal mehr mal weniger. Man muss auch sagen: Mit der Zeit entwickeln sich Menschen wie auch Opernhäuser. Bei Herrn Homoki kommen sicher mehr unterschiedliche Leute in die Oper. Sie ist viel offener. Dies wird auch durch Anlässe wie „Oper für alle“ oder das Eröffnungsfest bewusst unterstützt. Junge werden mehr gefördert. Theaterpädagogik gab es bei Herrn Pereira nur an einem ganz kleinen Ort. Das kommt einerseits vom Intendantenwechsel, ist aber auch sicherlich eine Zeiterscheinung.

„Opernmusik ist gut für die Seele.“

Sie machen viel, damit die Zukunft der Oper gesichert ist, dass die Jungen den Zugang finden. Wie viel braucht es, vom Opern hören in der Grundschule bis hin zum selbstständigen Gang in die Oper als junger Erwachsener?

Das ist genau der Punkt. Solange die Eltern noch sagen, wir haben dich für was angemeldet, läuft das total gut. Dann ist es ein riesiger Schritt zu den Angeboten ab 16, wenn die Kinder selber entscheiden, ob sie kommen. Dort harzt es immer noch. Sie melden sich nicht selbstständig an. Man muss wahnsinnig Werbung machen. Diejenigen, die einmal in einem unserer Projekte mitgemacht haben, die kommen dann eher wieder, weil sie wissen, dass da die gleichen Leute sind. Ich glaube, die 15-, 16-Jährigen melden sich nicht gerne an bei Veranstaltungen, die sie nicht kennen.

Warum ist es Ihnen so wichtig, dass junge Menschen den Zugang zur klassischen Musik finden?

Es ist mir ein Anliegen, dass man die klassische Musik unter Kinder und Jugendliche bringt, weil ich das etwas Wertvolles finde. Es ist gut für die Seele. Schlussendlich sichert man sich damit aber auch einfach das Überleben. Aber von der Vermittlung her ist es der Gedanke, dass man die Oper jedem mindestens einmal anbieten sollte, damit er es mal gesehen hat. Es ist sehr schön, wenn dann jemand wirklich den Zugang findet. Oft ist es so, dass es ein Loch gibt. Die Leute kommen bis 25, wenn sie Studenten sind – dann kommen sie auch günstiger rein natürlich –, nachher kommt eine Familienzeit bis 40. Nach 40, um die 50 kommen sie dann wieder. Das grösste Loch ist zwischen 25 und 45. Es ist gar nicht so, dass die ganz Jungen nicht kommen.

Treibt Sie auch die Sorge an, dass Kulturgut verloren gehen könnte?

Ich würde nicht sagen, dass die Oper eingeht. Die wird schon überleben. Es ist eine Qualität, zu sehen, dass da ohne Verstärker, ohne Elektronik, ein Mensch und ein Orchester auf der Bühne stehen. Das berührt viel direkter.

Sie haben bestimmt Hunderte von Opern gesehen. Wann wurden Sie zum letzten Mal ganz tief berührt von einem Stück?

Ich muss kurz überlegen. Ich spreche jetzt nicht von der Inszenierung, sondern nur von der Musik. Ich würde sagen bei Maria Stuarda. Der Schluss von Frau Damrau. Die letzte halbe Stunde kommt man nicht mehr zum Atmen. Das ist genau so ein Beispiel, das man irgendjemandem vorspielen könnte und jeder würde vermutlich die Wucht darin hören. Es hat viel mit der Person zu tun, es ist super Musik. Man kann die Situation nachfühlen: Sie wird bald geköpft und singt um ihr Leben.

„Wir wissen alle, dass die Liebe im echten Leben nicht so ist, wie sie in der Oper dargestellt wird.“

Mit Verlaub, das kann wohl kaum jemand nachfühlen …

Nein, aber die Tiefe. In der Oper gibt es ganz tiefe Gefühle, die man im Leben nicht direkt erlebt. Dafür sind viele Menschen empfänglich. Es ist das, was die Oper kann: Einen zutiefst berühren durch Musik und die Person, die da auf der Bühne steht. Es kommen so viele Dinge zusammen. Wenn das alles zusammenspielt, dann berührt es einen wie nirgends sonst.

Ist es nicht vielmehr die eigene Geschichte, die man rein gibt? Der Tod hat mit Ende, mit Verlassenwerden zu tun, mit Situationen, die man vielleicht selber erlebt hat. Sehen Sie das auch so?

Ja, oder vielleicht ist es die Sehnsucht nach tiefen Gefühlen. Wir wissen alle, dass die Liebe im echten Leben nicht so ist, wie sie in der Oper dargestellt wird. Das sind Sehnsüchte. Zum Teil sind die Liebesgeschichten sehr einfach gestrickt. Aber es schauen ja auch alle mit Begeisterung bei den königlichen Hochzeiten zu, das ist das gleiche Prinzip: eine Sehnsucht nach einer heilen, gefühlvollen Welt. Auch wenn wir wissen, dass Harry sicher auch Streit hat mit Meghan, aber das wird ausgeblendet.

Ist Ihr Beruf oder Ihre Berufung hier im Opernhaus für Sie auch eine Art Befriedigung solcher Sehnsüchte?

Ja, ich denke das gilt für alle Opernfans.

Bei Ihnen aber verstärkt, oder? Viele Fans gehen Opern konsumieren, Sie wollten aber ein Teil davon sein. Wie verlief Ihr Weg vom Familienausflug bis zur guten Seele des Opernhauses?

Das ist eine gute Frage. Ich denke, es war auch Zufall im Spiel. Ich habe hier als junge Frau immer den Einlass gemacht und habe damit während meines Studiums ein willkommenes Taschengeld dazu verdient.

Und Sie durften dafür die Opern schauen gehen?

Genau, immer. Dann bin ich mehr durch Zufall Leiterin der Abteilung geworden. Ich war jung, vielleicht um die 35. Dazwischen habe ich immer wieder den Einlass gemacht und ging in den Zusatzchor. Das ist dann nochmal eine andere Geschichte, wenn man tatsächlich Teil ist davon. Und dann wie beim Stück „Turandot“ merkt, dass einem die Füsse weh tun, wenn man lange auf der Bühne stehen muss. Schön ist es im Opernhaus, aber es ist nicht immer nur alles freudig. Ich habe 60 Leute unter mir. Ich mache es zum Glück mit einer Kollegin zusammen, die auch eine Freundin von mir ist.

Mit was sind Sie als Personalleiterin Zuschauerraum am meisten konfrontiert?

Es gibt zwei Seiten: das Publikum, was uns beiden sehr wichtig ist. Wir stellen sicher, dass die Zuschauer sich wohlfühlen, dass alles gut abläuft, dass alle Probleme gelöst werden. Von verlorenen Billets bis hin zu Leuten, denen es übel wird und die dann die Treppe runterfallen. Wir hatten gerade einen üblen Unfall in einer Premiere. Auch für die Evakuierung des Opernhauses wären wir mitzuständig, was zum Glück noch nie passiert ist. Dann haben wir die Seite der Mitarbeiter. Das sind hauptsächlich Mitarbeiterinnen. Jede hat seine Sorgen, die sie auch zur Arbeit mitträgt.

„Bei einer Aufführung seiner Lieblingssängerin ist ein grosser Opernfan gestorben.“

Welcher Vorfall im Opernhaus blieb Ihnen am meisten in Erinnerung?

Da gibt es natürlich vieles. Ein Erlebnis ist mir speziell in Erinnerung geblieben. Bei einer Aufführung seiner Lieblingssängerin ist ein grosser Opernfan gestorben. Das hat uns extrem lange beschäftigt. Aber seine Frau hat später einmal gesagt, dass er nicht schöner hätte sterben können.

Sie haben vorhin erwähnt, dass Ihnen das Theatralische so gefällt. Wie viel Drama haben Sie durch Ihren Job abgedeckt?

Ich neige schon etwas zum Drama. Ich habe eine laute Stimme und ein gewisses Temperament. Meine Eltern sind schon sehr alt, aber sie kommen immer noch in die Oper, und sie wissen meistens nicht, ob ich Dienst habe oder nicht. Dann sagt mein Vater immer, er müsse nur unten im Foyer stehen, kurz hinhören und dann wisse er, ob ich hier bin.

Woher kommt dieses Temperament?

Das hat man doch einfach, oder nicht? Meine Mutter ist auch so.

Träumten Sie nie davon, selber als Opernsängerin auf der Bühne zu stehen?

Doch, natürlich. Als Kind dachte ich, dass ich mal eine Primadonna werde. Aber das waren Träume.

Warum haben Sie diesen Weg nicht weiterverfolgt?

Ich weiss nicht. Ich kenne die total harte Seite davon. Ich habe es von dem her ideal, ich habe mein Hobby. Ich singe sehr viel, ich singe im Zusatzchor und mache Kirchenmusik, aber alles immer ohne grossen Druck. Ich bin nicht darauf angewiesen, mein Geld mit dem Singen zu verdienen. Ich kenne so viele Leute, die unglücklich sind als Sänger, weil sie keine Jobs bekommen. Es ist ein sehr schwieriger Weg.

„Ich kenne so viele Leute in meinem Alter, die haben mal da ein Engagement und mal da, aber sie haben einfach kein Geld.“

Was würde bei Ihnen am meisten Druck auslösen?

Ich glaube da bin ich ganz bünzlig schweizerisch: Ich würde nicht genug Geld verdienen, oder halt nicht regelmässig. Ich kenne so viele Leute in meinem Alter, die haben mal da ein Engagement und mal da, aber sie haben einfach kein Geld.

Wie eng arbeiten Sie mit den Sängern zusammen?

Wir sind die Verbindung zwischen dem Publikum und den Sängern. Wir haben auch viele Sponsorenevents, dann kommen die Sänger zum Schluss noch dazu, oder es gibt Autogrammstunden, oder dann kommen Fans, die sagen, sie seien die Grossmutter von dem Sänger und sie müssen unbedingt in die Garderobe, dann muss man das vorher abklären.

Sind das dann auch wirklich die Grossmütter?

Meistens nicht. Es gibt auch viele, die sagen, sie hätten ein Treffen vereinbart. Manchmal stimmt es und manchmal nicht.

Opern-Groupies?

Ja, da müssen wir schauen, dass sie nicht in die Garderobe gelangen.

Bei welchen Opernsängern sind Sie ehrfürchtig?

Ich bin eigentlich bei jedem Opernsänger, der eine ganze Partie singt und einstudiert, ehrfürchtig. Ich weiss, wie viel es braucht, bis man eine Chorpartie auswendig kann, bis man die Regie vom Chor kann. Ich kenne auch das Solosingen, weil ich noch Kirchenmusik mache. Ich habe vor allen, die das auf einer Bühne machen, eine grosse Ehrfurcht. Das kann man sich gar nicht vorstellen, was das braucht, wenn man es nie im kleinen Format selber gemacht hat. Und was es braucht, dass man immer gesund ist, bis man alles auswendig kann, bis man alles umsetzen kann, was der Dirigent will. Das ist nicht zu unterschätzen. Aber sicher gibt es auch Sänger, die ich besonders gut finde. Zum Beispiel Cecilia Bartoli finde ich total bewundernswert. Sie ist gleich alt wie ich.

Sie sind zusammen gross geworden?

Ja, das kann man so sagen. Wir kennen uns schon seit sie damals mit 18 Jahren hier war.

Bilden sich durch all die Jahre auch Freundschaften mit den Sängern?

Ja, Cecilia Bartoli kenne ich jetzt zufälligerweise ein bisschen besser. Das hat private Gründe. Ich finde es unglaublich ergreifend, wenn jemand über so lange Zeit dieses Niveau halten kann.

Sabine Appenzeller im Gespräch mit Anna Maier

„Wenn man wirklich gross werden will, muss man sich einschränken.“

Was braucht es dazu?

Eiserne Disziplin.

In Bezug auf?

In Bezug auf alles. Man muss viel üben, viel lernen, man darf nicht alles essen, man muss fit bleiben.

Eigentlich ein totales Korsett?

Und man muss ja doch noch leben dazwischen. Wenn man wirklich gross werden will, muss man sich recht einschränken.

Haben Sie ein Ritual, bevor Sie auf die Bühne gehen?

Nein, keines.

„Man stellt sich das vielleicht zu glamourös vor.“

Wirklich nicht? Was ist der letzte Gedanke, bevor Sie raus gehen?

Man stellt sich das vielleicht zu glamourös vor. Meistens muss man in den letzten Sekunden noch schauen, wo der Vordermann steht, oder überlegen, was der nächste Einsatz ist. Vielleicht haben Solisten ihre Rituale, aber im Chor weniger.

Hinter der Bühne ist so viel los, dass man viel zu beschäftigt ist zum Überlegen. Man muss schauen, dass man den Auftritt erwischt, dass man rechtzeitig draussen ist, dass man weiss, was man machen muss. Ich singe auch in der Turandot. Da müssen wir über eine halbe Stunde stehen in der Mitte. Dann hofft man bloss, dass man die richtigen Schuhe an hat. Diese Produktion hatte im Jahr 2006Premiere und damals habe ich über alle gelacht, die gejammert haben, dass ihnen die Füsse wehtun. Jetzt bin ich aber im Alter, wo ich es auch merke.

Wann gehen Sie am Abend richtig zufrieden ins Bett?

Grundsätzlich kann ich immer zufrieden ins Bett gehen, weil ich immer direkt einschlafe und einen sehr guten Schlaf habe. Das ist heilsam. Ja, zufrieden bin ich, wenn die Vorstellung gut gelaufen ist. Ich finde schön, wenn der Applaus tosend ist.

Wenn ich im Zuschauerhaus arbeite, bin ich am zufriedensten, wenn möglichst auch alle Gäste und Mitarbeiterinnen zufrieden nach Hause gehen. Es ist aber nicht immer einfach, mit 60 Mitarbeitern zusammen zu arbeiten.

Ist das wegen der vielen Frauen?

Ich habe immer behauptet, dass das nicht so sei. Aber alle anderen sagen immer, das sei so und mittlerweile glaube ich es auch. Man ist halt nahe zusammen. Das gibt’s doch überall.

In den 30 Jahren an der Oper Zürich kennen unzählige Menschen Sie als «gute Seele» des Hauses. Passiert es Ihnen eigentlich, dass Sie auf der Strasse erkannt werden?

Das passiert mir sogar sehr häufig. Mich kennen wirklich viele Leute, ja. Letztens war ich in Hongkong und jemand, der mich aus der Oper kannte, hat mich angesprochen. Ich hatte keine Ahnung, wer es war. Ich finde das lustig.

www.opernhaus.ch

Text: Anna Maier
Bilder: Claudia Herzog

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Kommentare

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    Beat Merki
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    Die „gute Seele“ ist immer „Gold“ wert. Schön, dass Du uns auch immer wieder Leute näher bringst in Deinen Interview die nicht direkt im Rampenlicht der Bühne stehen aber gleichwohl auch ein Garant sind für die Abwicklung in der Oper. Du hast mit diesen drei Interviews sehr interessante und schöne Einblickewelche sich so hinter dem Vorhang der Oper abspielen an uns weiter gegeben. Ein grosses Dankeschön an Dich!

    3. Juli 2018

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