„Wie zur Hölle kann man glücklich sein in dieser kaputten Welt?“ Tomo Muscionico, Fotograf
Durch seine Kamera wurde er Zeuge der schlimmsten Verbrechen unserer Zeit. Wie überlebt man im Alltag, wenn man an der Front war?
Tomo Muscionico, ein 50jähriger Schweizer aus Buchs, einer Stadt im St. Galler Rheintal, die viele nur von der Durchfahrt kennen, war in manchem Epizentrum. Da, wo Weltgeschichte passierte.
Beim Fall der Berliner Mauer genauso wie im Bosnienkrieg, als Zeuge des Völkermordes in Kigali, der Revolution in der Tschechoslowakei, bei den Gefechten in Grosny und den Massakern in Haiti.
Er fotografierte aber auch die Staatsoberhäupter, die die meisten von uns nur aus den Geschichtsbüchern und Medien kennen: Mandela, Havel und einige Amerikanische Präsidenten der jüngeren Zeit: Bush, Clinton, Trump.
Tomo Muscionico, Bindeglied der krassen Gegensätze, der sich hier Leichenteile von seiner Schutzweste wischt und dort in der Limousine mit Trump sitzend wiederfindet.
Eher zufällig trat er in mein Leben – aber was ist schon Zufall? Ich suchte für meinen Interviewpartner Simon Otto, Chefzeichner der «Drachenzähmen leicht gemacht»-Trilogie, einen Fotografen in Los Angeles. Und stiess auf ihn.
Als ich ihn persönlich treffe, sehe ich einen toughen Mann mit einer berührenden Verletzlichkeit in seinem Blick. Ich wollte – nein: musste – ihn auch interviewen.
Muscionico, der sich zeitlebens ein wenig hinter seiner Kamera versteckte, aber durch den Sucher Zeuge wurde von Dingen, die ein Mensch kaum aushalten kann, zeigte sich im Interview erbarmungslos mutig. Und präsentiert uns eine Realität, die eben auch existiert auf dieser Welt.
Und wie steinig der Weg zurück in einen «Alltag» ist.
«Warum schreien diese Menschen, warum haben sie eine Pistole?»
Anna Maier: Mit 20 Jahren gingst du weg aus deinem Dorf und kamst nie mehr zurück. Was hat dich in die Welt raus gezogen?
Tomo Muscionico: Sagen wir es so: Ich bin nie morgens aufgewacht und habe mir gedacht, dass mein Karriereziel Kriegsberichterstatter sein würde. Das wäre zu abstrakt gewesen. Ich habe einfach immer gerne fotografiert, schon als Kind.
Wie hast du deine Leidenschaft fürs Bild entdeckt?
Lass mich dazu eine Geschichte erzählen, die einiges erklärt: Vor ein paar Jahren habe ich an einem Foodfestival fotografiert und traf da Ben Ford, einen bekannten Koch.
Nach dem Fotografieren habe ich mit ihm diskutiert und ich habe ihn gefragt, was er denn am Kochen interessant fände. Er sagte: «Essen ist das beste Kommunikationsmittel der Welt. Es ist verbindend: Die Sprache ist nebensächlich, die Kultur ist nebensächlich. Alle essen gerne.»
Mit dem Fotografieren sehe ich das ähnlich. Ich habe schon als Kind auf Schulreisen fotografiert. Ich hatte immer eine Kamera dabei. Mein Vater hat mir Filme gekauft und ich habe dokumentiert.
So habe ich schon früh gelernt – noch vor der Zeit von IPhone und Selfies –, dass es viele Menschen schätzen, wenn man für sie eine visuelle Erinnerung kreieren kann.
Der ausschlaggebende Grund, warum ich schlussendlich Fotografie studiert habe, war aber, um aus meinem Dorf rauszukommen.
Warum wolltest du da weg?
Ich wuchs zwar nicht in einem Bergdorf auf, aber in einem Ort, an dem jeder jeden kennt.
Das wurde dir zu eng?
Viele meiner besten Freunde leben sehr schöne Leben, weil sie unglaubliche Familien haben, weil sie gute Väter sind. Sie leben immer noch in Buchs. Ihre Kinder gehen dort zur Schule und sie werden dort sterben, wo alles anfing.
Was macht das mit dir, wenn du dir vorstellst, du würdest dieses Leben so leben?
Ich kriege davon Gänsehaut. Für mich persönlich ist dies eine schlimme Vorstellung. Obwohl ich privilegiert aufgewachsen bin und meine Eltern meine grössten Vorbilder sind. Aber es gab da diese Geschichte, von der ich heute glaube, dass sie die Grundlage ist für vieles, was später mein Erwachsenenleben prägte:
Als kleines Kind ging ich in die Bibliothek meines Vaters und nahm völlig zufällig ein Buch raus – es war die Biografie von John F. Kennedy. Im Mittelteil dieses Buches gab es einen Bildteil mit Fotos. Ich schlage also diese Seite auf und auf dem ersten Bild sehe ich Kennedy-Mörder Lee Harvey Oswald erschossen nach seinem Gefängnisaufenthalt in Dallas. Ich glaube, ich habe drei Tage lang geweint.
Wie alt warst du?
Ungefähr 8-9 Jahre alt. Ich habe meine Mutter gefragt, was das sei. Warum schreien diese Menschen, warum haben sie eine Pistole? Für mich zerbrach damals ein Paradies. Zum ersten Mal realisierte ich, dass die Welt nicht so im Einklang ist, wie wir sie als Kind empfanden.
Dieser krasse Moment – des Aufwachens oder des Erschreckens – war für mich der Antrieb, um mehr zu wissen, mehr rauszufinden.
«Die Kamera ist ein imposantes Werkzeug um Menschen zu öffnen.»
Was hat dieser Antrieb bei dir ausgelöst?
Ich war und bin einfach unheimlich neugierig. Ich spreche gerne mit Menschen und lerne ihre Sicht kennen. In der Kunstgewerbeschule habe ich erstmals erfahren, was die Fotografie für ein Türöffner ist. Wenn du eine Kamera bei dir hast, machen Menschen manchmal Unglaubliches für dich.
Meine erste grosse Arbeit in der Kunstschule hatte den Namen «das Haus». Während dieser Zeit wohnte ich an der Zürcher Ankerstrasse mit einem bunten Mix Menschen zusammen, vom russischen Immigranten bis zur vereinsamten älteren Frauen.
Alle meine Kollegen haben sich eine grosse Fachkamera ausgeliehen und Häuser fotografiert, Architektur, perfekte Zonensysteme. Ich nahm meine Kamera und stellte mich bei meinen Nachbarn vor. Ich fragte sie, ob ich sie porträtieren dürfe.
Ihr hattet noch nie zuvor näheren Kontakt?
Nein. Für eine lange Zeit habe ich diese Menschen nur im Treppenhaus gesehen und sie gegrüsst. Erst meine Kamera gab mir die Möglichkeit, sie richtig kennenzulernen.
Den alten russischen Immigranten habe ich im Badezimmer fotografiert, als er sein Glasauge rausnahm. Ohne es wirklich zu wollen, habe ich plötzlich die Intimsphären dieser Leute abgebildet. Sie waren so unglaublich offen. Vielleicht hatte es auch damit zu tun: In der Stadt sind viele ältere Personen sehr einsam. Diese Menschen schienen froh, sich jemandem anvertrauen zu können. Das war eine super Erfahrung.
Eine Woche später mussten wir die Arbeit abgeben. Alle präsentierten ihre unglaublichen Architekturfotos. Ein Kollege fotografierte die ETH Zürich, ein anderer die Sukkulenten-Sammlung am See. Fantastische Fotos.
Ich dachte mir, dass ich es total verpeilt hatte. Ich hatte nicht Häuser fotografiert, sondern Menschen. Meine Arbeit kam aber sehr gut an. Und ich hatte die erste wichtige Erkenntnis: Die Kamera ist ein imposantes Werkzeug, um Menschen zu öffnen. Manche teilen ihr Leben mit dir, wenn du Fotos machst.
Aber auch nur, wenn du das Talent dazu hast, sensibel vorzugehen.
Nun, ich habe dies auf jeden Fall nie berechnend gemacht, mich nie um meine Karriere gekümmert. Ich bin nicht berühmt, ich bin nicht reich. Aber ich liebe, was ich tue. Wenn ich zurückblicke, muss ich auch gestehen, dass ich nie einen Plan hatte. Für lange Zeit hatte ich einfach das Privileg, von jemandem ein Ticket zu erhalten, dorthin zu fliegen und zu fotografieren.
Ich möchte aber nochmals einhaken: Deine Wurzeln im beschaulichen Buchs und Kriegsfotografie – das ist doch eine grosse Diskrepanz. Warum vom einen Extrem ins andere?
Ja, ich verliess bewusst das Extrem der Geborgenheit, den Ort der Kindheit, wo sich Dinge langsam verändern. 30 Jahre später schätze ich genau diese Stabilität zwar sehr, aber als junger Mann war ich hungrig auf das pralle Leben.
Ich kam nach Amerika, war in New York, ein paar sehr glückliche Zufälle kamen zusammen. Ich fand eine Agentur, die mir half, Arbeit bei grossen Magazinen zu finden. Für einen Monat war ich in New York, dann plötzlich schickt man mich nach Berlin und die Mauer fiel. Das war mein erster Auftrag. Es war die Hölle los, da passierte Geschichte.
Peter Turnley, ein von mir geschätzter amerikanischer Fotograf, sagte damals zu mir, dass ich noch nichts erlebt hätte, wenn ich nicht Rumänien unter der Ära Ceausescu gesehen hätte.
Dann begann die Revolution in der Tschechoslowakei, in Prag. Die ganze Medienlandschaft zog weiter, an all die Orte, die die Nachrichten bestimmten. Und wir versuchten, diese geschichtsträchtige Periode abzubilden.
Was macht das mit einem, wenn man plötzlich mittendrin sitzt?
Man fühlt sich wie auf Drogen. Kann aber wegen der ständigen Überreizung nicht umfassend realisieren, was da um einen herum wirklich passiert.
Fühlst du dich lebendig, wenn um dich herum alles zusammenkracht?
Wenn du in Berlin bist und plötzlich siehst, wie Ostdeutsche durch ein Loch in der Mauer strömen, dann ist das sehr emotional. Man wird auf eine merkwürdige Art süchtig nach dieser Art Rausch. Aber man verarbeitet in diesem Moment nicht.
«Ich hatte das Bedürfnis, gewisse Dinge gerade zu rücken.»
Erträgt man solche Situationen besser, wenn man das Ganze durch den Sucher beobachtet, die Kamera der Filter ist zwischen dir und der zum Teil auch brutalen Realität, die du erlebt hast?
So unverständlich es vielleicht klingen mag: Man geht ja nicht nach Somalia, um sterbende Kinder zu retten. Wenn das meine Aufgabe gewesen wäre, dann hätte ich Médecins du Monde kontaktiert und wäre Hilfsarbeiter geworden. Man geht nach Somalia, um die Realität zu dokumentieren.
Persönliche Frage: Hat man in diesem Moment nicht das Gefühl, Hilfeleistung zu unterlassen, wenn man «nur» dokumentiert?
Ich glaube nicht, dass ich jemals einfach der Voyeur war. In dieser Situation bist du nie alleine. Da ist ein ganzer Tross aus Security, Bodyguards und Hilfswerken mit dabei. Und man hilft sich immer.
Ich hatte auch ständig das Bedürfnis, gewisse Dinge gerade zu rücken, zu helfen, dass nicht das Schlechte überwiegen würde sondern das Gute. Unschuldige Menschen werden vor deinen Augen ermordet. Du weisst, dass sie nicht ermordet werden sollten und du willst eingreifen. Nur leider ist es so, dass du als Fotograf in Krisengebieten häufig wenig ändern kannst.
Ich war oft in Situationen, die einfach nur schief liefen. Diese Situationen sind so kompliziert und schwierig zu verstehen. Der Grund, warum ich nicht mehr mache, was ich früher machte, ist, weil ich für mich zum Schluss kam, dass mein Einsatz nichts gebracht hat.
War diese Erkenntnis frustrierend für dich?
Dazu muss ich ausholen. Ich habe zwei, drei Situationen erlebt, wo ich dachte, ich sei der König der Welt. Zum Beispiel während des Krieges in Bosnien, in Sarajewo. Der langjährige Fotochef vom «Stern», Wolfgang Behnken, stellte mich damals an, um eine Reportage über das ehemalige olympische Dorf Dobrnja zu machen.
Das Dorf wurde zur Front. Ein Kinderheim wurde bombardiert. Der «Stern» hat diese Geschichte publiziert über 10-12 Seiten. Viele Menschen in Deutschland sahen diese Story und wollten helfen, ich weiss nicht mehr, wieviel gespendet wurde. Kinder wurden nach Deutschland gebracht, ein Kinderheim wurde wiederaufgebaut. Damals hatte ich danach das Gefühl, dass es auch wirklich einen Sinn ergab, dass ich mein Leben vor Ort riskiert hatte.
Aber oftmals ist man in Gebieten, wo die Leute fragen: «Warum fotografierst du mich? Du bist vom «Time Magazine»? Ich kenne das nicht. Ich werde Morgen sterben und du wirst gut dastehen. Du wirst einen World Press Award gewinnen, aber nichts an meiner Situation ändern.»
Wie überlebt man solche Situationen mental? Du bist doch ständig am Verarbeiten.
Nein, das machst du nicht. Man entwickelt einen Mechanismus, dass man das Verarbeiten verzögern kann. Dass man sich nicht sofort mit dieser teils furchtbaren Realität auseinandersetzen muss.
«Meine Generation von Fotografen dachte, dass sie wirklich etwas verändern kann.»
Kannst du das?
Du musst es können. Ich glaube, ich kann es gut. In einer Situation, in der schreckliche Dinge passieren, braucht man einen Überlebensinstinkt. Man versucht, am Leben zu bleiben. Man macht Fotos, denkt an die Deadline und ans Magazin, damit man nicht verrückt wird.
Dazu fällt mir eine Situation ein, die ich erlebt habe, als ich in Tschetschenien war, in Grosny. Damals hatte ich eine Freundin. Sie arbeitete bei einem der erfolgreichen Studiofotografen in New York. Ich hatte mit ihr während 2-3 Wochen keinen Kontakt mehr gehabt. Es passierte damals eine Entfremdung, die zu einem einschneidenden Wendepunkt in meinem Leben wurde.
Vielleicht muss ich noch vorausschicken, in was für einer furchtbaren Welt ich damals unterwegs war: Es gab Abende, an denen ich menschliche Überreste von meinem Kevlar-Teller wischen musste. Wirklich schlimm. Das war zum damaligen Zeitpunkt aber meine Realität.
Ich rufe also meine Freundin an und sage ihr, dass ich noch am Leben bin und frage sie, wie es ihr geht. Sie sagt etwas wie: «Ich hatte einen Scheisstag. Ich war den ganzen Tag beim Fotoshooting und dann kam ich nach Hause und musste 30 Minuten nach einem Parkplatz suchen.»
Als sie das sagte, hatte ich fast einen Nervenzusammenbruch. Es ist interessant: Von allen schrecklichen Ereignissen, die ich erlebt habe, ist es dieses, welches mich damals wochenlang beschäftigte und mir noch heute als erstes einfällt.
Warum genau dieses? Weil sie die krassen Gegensätze aufgezeigt hat, in der du und deine Freundin gelebt habt?
Es hat weh getan, weil ich verliebt war, die Frau, die ich liebte, aber weitmöglichst von mir entfernt war. Ich fühlte mich einsam, isoliert und unverstanden.
Wenn man sieht wie junge Menschen und Kinder sterben, das ist traumatisch. Man versucht, nicht durchzudrehen, indem man nicht wirklich drüber nachdenkt, was man hier macht und im Kopf und Herzen weit weg bei seiner Liebsten ist.
Dann spricht man mit seiner Freundin und weiss, dass man ihr nicht böse sein kann, dass sie ein normales Leben lebt. Es ist nicht ihr Fehler, dass sie sich aufregt, keinen Parkplatz zu finden. Sie befindet sich in einer anderen Realität. Es war meine Entscheidung, in Grosny zu fotografieren. Es war ihre Entscheidung, in New York weiterzuleben.
Was ist nach dieser Situation passiert?
Das war sehr früh in meiner Karriere. Wir waren bald nicht mehr zusammen. Und ich machte mich auf ins nächste Kriegsgebiet.
Das, was ich damals gemacht habe, hatte aber einen positiven Einfluss auf sie.
Inwiefern?
Ein Jahr nach unserem verstörenden Telefongespräch kündigte sie ihren sicheren Job und ging mit einer Kamera nach Zimbabwe.
Sie hat dort ein AIDS-Projekt gestartet, welches von Madonna gesponsert wurde. Schlussendlich war sie mutiger, als ich es jemals war. Sie sieht aus wie ein Model, sie ist weiss, hatte eine behütete Kindheit und dann geht sie plötzlich nach Zimbabwe, um zu helfen.
Hat das deine Meinung über sie beeinflusst?
Wir waren nicht mehr zusammen zu diesem Zeitpunkt. Was mir aber bewusst wurde, war, dass mein Leben und meine Entscheidungen mein eigenes Ding sind.
Ich kann niemanden verurteilen, nur weil er oder sie ein normales Leben führt.
Wann kam der Punkt, an dem es für dich nicht mehr ging, ständig in den Krisenherden dieser Welt unterwegs zu sein?
Das war in Haiti. Ein Typ wurde von einem Mob umzingelt. Wir kannten ihn. Der Mob beschuldigte ihn, ein Agent für den Geheimdienst Tonton Macoute zu sein. Sie begannen, ihn zu Tode zu prügeln. Ich wollte ihm helfen. Ein Freund zog mich weg, sonst hätte ich vielleicht auch nicht überlebt.
Irgendwann realisierst du, dass dich dein Schutzengel nicht immer beschützen kann. Und die Angst gesellt sich dazu.
Dann kam 9/11 und nichts veränderte sich. Meine Generation von Fotografen dachte, dass sie wirklich etwas verändern kann, wenn wir der Welt den Spiegel vorhalten, die Realität aufzeigen, die brutal ist und manchmal weh tut. Aber schau dir die Welt heute an. Vieles ist noch schlimmer geworden.
Das hat mich zynisch werden lassen.
Du warst aber – wie du mir erzählt hast – immer auch der Typ Clown. Ist das deine Art, mit all dem Erlebten umzugehen?
Ich will immer, dass es allen anderen gut geht.
Warum?
Weil so viele Menschen traurig sind.
«Ich muss mich jeden Morgen überwinden, dass mich die Realität nicht zu fest frustriert.»
Aber es lenkt auch wunderbar von dir selber ab, wenn du dich um die anderen kümmerst, oder?
Ja, absolut. Aber wie sagt man so schön: Nur gemeinsam können wir etwas verändern. Ich selber habe nur eine kleine Stimme. Aber diese möchte ich erheben und die Menschen wachrütteln. Die Welt ist nicht nur schön und lustig. Die Welt ist auch ein grausamer Ort.
Ich war früher ständig auf Reisen, hatte ein sehr intensives Leben. In diesem schnell drehenden Hamsterrad konnte ich die Realität verdrängen. Wenn TIME, People, Newsweek Magazine Geld in dich investieren, dann befindest du dich unter immensem Druck. Du hast Konkurrenz, du musst schneller sein, du musst deine Vision, deine persönliche Handschrift in deine Bilder packen.
Meine besten Freunde arbeiteten für dieselben Magazine. Wir waren ein Team, aber letztendlich musste ich besser sein als die anderen, um den Auftrag zu erhalten. Auf der einen Seite hast du diese menschlichen Tragödien und auf der anderen Seite willst du einen World Press oder einen Pulitzer Preis gewinnen.
Ich fing ursprünglich mit der Fotografie an, weil ich die Welt abbilden wollte wie sie ist. Und ich dachte damals in meinem jugendlichen Übermut auch, dass ich damit die Welt verbessern könnte. Doch dann merkst du irgendwann, dass alles zu einem Geschäft wird. Aus diesem Grund habe ich aufgehört als Kriegsreporter, weil ich meine Arbeit als heuchlerisch zu empfinden begann.
Du sagst, dass du das Wort «Kriegsreporter» nicht magst. Warum nicht?
Wir waren da, um Konflikte zu entblössen. Wir waren Anti-Kriegsfotografen, nicht Kriegsfotografen. Das ist einfach diese romantisierte Bezeichnung, die wir an Dinner-Partys anmerken können, um gut dazustehen. Die Realität war aber ganz anders. Die Business-Seite, die Konkurrenz, und die Machtlosigkeit, eine Art und Weise zu finden, um wirklich etwas verändern zu können.
Irgendwann hast du damit aufgehört und dein Leben komplett geändert. Du gingst nach Las Vegas, hast dort für den Cirque du Soleil fotografiert, zogst weiter nach Los Angeles. Du hast die Seiten gewechselt. Fühlst du dich wohl in dieser Hochglanzwelt?
Hm. Das verlief nicht ganz so radikal. Ich wechselte zunächst als Fotograf zu Al-Jazeera America. Bis dahin hatte ich immer das Gefühl, dass ich Amerika kenne. Ich dachte: Nach 25 Jahren gäbe es doch keine Geschichte mehr, die mich überraschen würde. Es gäbe kein Ereignis, über welches ich in Amerika nicht schon berichtet hatte. Aber ich lag damit falsch.
Bevor ich deine Frage fertig beantworte, möchte ich gerne etwas loswerden: Obwohl vieles, was zurzeit in Amerika passiert, manchmal verrückt erscheint, fühle ich mehr mit diesem Land mit als je zuvor. Wir haben Politiker, die ein Land und seine Kultur zerstören, obwohl diese in meinen Augen einzigartig ist.
Ich hatte also nach meiner Zeit als Kriegsberichterstatter die Möglichkeit, wieder dahin zu wechseln, wo meine Wurzeln liegen, nämlich in die klassische Fotoreportage. Keine Konflikte, keine «Hard News». Ich arbeitete mit einem jungen, sehr talentierten Journalisten mit indigenen Wurzeln zusammen. Wir haben ein paar Jahre sehr interessante Stories umgesetzt. Dann ging das Kapitel Al-Jazeera America zu Ende und es wurde immer schwieriger Publikationen und Magazine zu finden, die an tiefgründigen Fotoreportagen interessiert waren.
Heute? Ich muss mich jeden Morgen überwinden, dass mich die Realität nicht zu fest frustriert. Social Media und das Internet haben einen unglaublichen Einfluss – nicht immer nur einen guten – auf die Fotografie. Gleichzeitig muss ich aber auch sagen, dass es noch nie so viel junge, talentierte Fotografen gab wie heute.
Wenn man sich nur die Arbeit der jungen chinesischen Strassenfotografen anschaut, die mit ihren IPhones fotografieren und ihr Abbild der chinesischen Kultur über die verschiedensten Plattformen mit der Menschheit teilen können, dann stellt dies die schlechten Seiten von Social Media in den Hintergrund.
Ich meine: Glücklich zu sein ist so eine Sache – vor allem hier in Amerika. Ich habe manchmal den Eindruck, Amerikaner seien etwas albern, was das angeht. Alles muss immer grossartig und super sein. Die Leute müssen immer glücklich sein. Es gibt aber gar keinen Grund, ständig glücklich zu sein. Warum auch?
Auf was ich anspiele ist dieser Drang, Glückseligkeit vorzuspielen. Ja, ich bin der Meinung, dass viele Leute diese nur vorspielen. Sie lügen ihre Partner an, sie lügen ihre Chefs an. Sie sagen nie, was sie wirklich denken, sie stecken in einem Job fest, den sie nicht leiden können. Gleichzeitig wollen sie allen alles recht machen. Sie suchen nach einem Weg, um zu lachen und nicht zu weinen. Es ist so vieles vorgeheuchelt. Alle wollen berühmt sein, grossartig aussehen, wichtig sein.
«Wir schmierten uns Vicks unter die Nase, damit wir atmen konnten inmitten der Leichen.»
Wenn du aber so denkst, dann erstaunt es doch umso mehr, dass du dich entschieden hast, in die Hochglanzindustrie zu wechseln. Wie gehst du damit um, jetzt selbst ein Teil dieser Hochglanzwelt zu sein?
Heutzutage fotografiere ich, weil die Auftraggeber genau meinen Stil, die Welt zu sehen, suchen. Das kann dann auch mal backstage an den Emmys sein. Meine Fotografie ist aber häufig sehr zynisch.
Es gibt immer Menschen, die dich verstehen. Auch in der sogenannten Hochglanzwelt. Um auf die Glückseeligkeitsdebatte zurückzukommen – auch wenn es banal klingen mag: Ich glaube, es ist wichtig, dass man mit sich selber zufrieden ist.
Bist du das?
Absolut. Finanziell und karrieretechnisch bin ich zwar weit davon entfernt, wo ich sein sollte, oder sein will. Ich bin sehr engagiert in meiner Beziehung, ich bin verliebt, habe eine grossartige Partnerin.
Ich bin dankbar für alle Momente, die ich erlebt habe, auch die schrecklichen. Denn all die Jahre haben mich gelehrt, dass man die Welt nur verändern kann, wenn man beginnt, sein eigenes Leben zu ändern. Und sich mit Menschen zu umgeben, die dieselben Werte teilen.
Anstatt in die Weltgeschichte reinzuhüpfen, fokussiere ich mich heute darauf, was mein Umfeld und mich lokal bewegt. Ich habe zum Beispiel eine Dokumentation gemacht über die Obdachlosen hier in Downtown LA. Früher dachte ich, dass die grossen Veränderungen von aussen kommen müssen. Heute, nach all meinen Erfahrungen, glaube ich, dass wir im ganz engen Zirkel starten sollten, unsere Welt wieder lebenswerter zu gestalten.
Entsprechend verspüre ich keinen Drang mehr dazu, die Welt zu verändern sondern beginne mit meinem Umfeld und mir.
Ob ich zufrieden bin? Ich bin dankbar, dass ich immer noch lebe. Aber es gibt so viele Ungerechtigkeiten in dieser Welt, wie zur Hölle kann ich da glücklich sein?
Die Sicht auf die Welt ist – verständlicherweise – stark gefärbt durch deine Erlebnisse.
Ja, jeder Mensch vermischt seine persönlichen Erfahrungen mit dem Leben mit der Sicht auf die Welt.
Wer Traumatisches erlebt hat, der kann nicht einfach zurück in sein altes Leben. Es holt dich immer wieder ein. Ein Beispiel: Vor zwei, drei Wochen war ich bei einem Freund, der ein kleines Kind hat. Die Mutter ging ins Badezimmer und kam zurück mit einer Dose Vicks-Gel.
Ich hatte fast einen Nervenzusammenbruch.
Warum?
Ich konnte den Leuten nicht erklären, warum. Da war dieser kleine Junge, die Mutter rieb ihn mit Vicks ein. Ich sagte: «Leute, ich muss los. Ich erkläre euch später, warum.» Ich ging in mein Auto und heulte…
Was war denn?
Das letzte Mal, als ich etwas mit Vicks zu tun hatte, war während des Völkermordes in Kigali. Mein Freund gab es mir, um es mir unter die Nase zu schmieren, damit ich nicht ohnmächtig wurde als ich hunderte von Leichen fotografieren musste. Man schmiert sich Vicks unter die Nase, damit man atmen kann.
Eine posttraumatische Situation.
Ja. Die verfolgen mich ständig. Vor ein paar Jahren ging ich mit Freunden ins Kino, um Black Hawk Down zu sehen. Was ich selber in Somalia gesehen hatte, kolidierte mit dem, was ich hier als Hollywood-Film serviert bekam. Vieles kam hoch. Das war hart. Ich habe aber keine schlaflosen Nächte.
«Ich habe gelernt zu verstehen, warum Menschen so sind, wie sie sind.»
Kannst du diese Bilder je loswerden?
Das will ich nicht.
Warum nicht?
Das würde ja bedeuten, dass ich damit einverstanden bin, dass ich es vergesse. Da kommt wieder die Frage mit dem Glücklichsein ins Spiel. Ich habe kein Drogenproblem, ich bin kein Alkoholiker, ich bin sehr einfühlsam, ich übe keine Gewalt aus in meiner Beziehung, ich werde geliebt, ich habe Freunde. Meine Frau ist mir treu. Heute bekämpfe ich keine dunklen Mächte mehr, aber gleichzeitig frage ich mich, warum ich glücklich sein sollte, währenddem die Welt weiter brennt.
Ich kann deine Wut auf die Welt mit dem Hintergrund deiner Geschichte absolut nachvollziehen. Der Grossteil der Menschen um dich herum führt aber vermutlich ein sorgloses Leben. Damit wirst du ja ständig konfrontiert.
Genau. Ich muss einen Weg finden, um damit umgehen zu können, ohne zynisch zu sein.
Ich bin aber jetzt älter und weiss, dass jeder eine eigene Geschichte hat. Ich habe gelernt zu verstehen, warum Menschen so sind, wie sie sind. Ich kann nicht böse sein auf meine Ex, weil sie keinen Parkplatz gefunden und sich deshalb geärgert hat.
Wenn du ein Kind hättest, was wäre für dich das Wichtigste, was du ihm mitgeben würdest?
Ich dachte früher, dass ich die Welt verbessern kann, indem ich mein eigenes Leben riskiere. Heute denke ich, dass die viel bessere Art und Weise, etwas zu verändern, ist, gute Eltern zu sein. Das ist zumindest mein Wunschdenken.
Meine Frau ist Buddhistin. Ich glaube an Wohlwollen. Ich habe in meinem Leben viele schlechte Entscheidungen getroffen, aber ich habe eine fast weisse Weste in Bezug auf menschliche Dramen. Ich habe viel menschliches Drama fotografiert, aber nur sehr wenig selber produziert.
Die nächste Phase in meinem Leben ist es, Vater zu werden. Meine Frau ist noch jung. Wir werden in den nächsten Jahren sehr wahrscheinlich ein Kind haben. Nur musst du wissen: Ich trage eine schwere Last von meinen Eltern, denn sie waren für mich verdammt perfekt. Viele Leute erleben sehr viel Tragik in ihren Kindesjahren – sei es durch Gewalt oder Alkoholismus der Eltern. Ich war im Paradies. Meine Eltern sind seit 60 Jahren verheiratet.
Sie leben beide noch?
Ja, sie leben beide noch, zoffen sich täglich, aber lieben sich zutiefst. Das zu sehen, berührt mich tief. Und natürlich wünsche ich mir dies für meine eigenen Kinder.
Was ich ihnen mitgeben möchte?
Nachdem ich während vieler Jahre Zeuge wurde von Hass und Härte, realisiere ich heute, dass alles Erlebte für mich vergeblich gewesen wäre, wenn ich nicht mithelfen könnte, ein kleines Stück bessere Welt zu hinterlassen.
Vielleicht wird mir diese Chance gegeben, in dem ich einem Kind Sicherheit, Stabilität und Liebe mitgeben kann.
Text: Anna Maier
Bilder: © 2019 Joseph Lee
Hier gehts zu meinem Artikel auf Bluewin: „Anna Maier trifft… Tomo Muscionico.“
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Beat Merki
Dieses Interview bewegt einem sehr wiederum ein eindrückliche Lebensgeschichte welche von Dir einmal mehr so gefühlvoll verfasst ist..eine einmalig Anna!!
Judith
Liebe Anna
Was für ein berührendes Interview! Die Kombination von Erzählungen eines tiefgründigen Menschen und die klare, direkte und gleichzeitig sensible Art der Fragestellung ergeben ein eindrückliches Leseerlebnis, das zum Nachdenken anregt. Danke!
Ich bin gespannt auf die nächsten „Keine Hochglanzmenschen“…
Herzlich – Judith