„Den kriegen wir nicht mehr hin!“ Joachim Schoss, Unternehmer und Investor
Er fällt auf. Durch seine Eleganz und seine Eloquenz. Das weltmännische Auftreten zeigt, dass er sich schon viele Jahre auf dem Parkett der erfolgreichen Unternehmer bewegt. Als Gründer von Scout24 (Immoscout24, Autoscout24 etc) ist Joachim Schoss, 55, sich Erfolg gewohnt.
Und er fällt auf, weil ihm sein rechter Arm sowie sein rechtes Bein fehlen. Seit einem Motorrad-Unfall in Südafrika. Ein betrunkener Autofahrer schoss Joachim Schoss von der Strasse ab, am letzten Tag seines Urlaubs.
Dass jemand als erfolgreicher Unternehmer, Familienvater und Lebemensch unverschuldet zuerst Arm und Bein verliert und danach Job und Familie, das würde manchen vermutlich zuerst mal in eine Lebenskrise stürzen.
Joachim Schoss sieht das anders. Es ist seine Geschichte und sein Leben. Und er hat damit Frieden geschlossen. Obwohl ihn die Ärzte sterben lassen wollten. Obwohl der Unfallverursacher sich nie bei ihm gemeldet hat. Obwohl er fast alles, was ihm früher wichtig und lieb war, in dieser Zeit verlor.
„Jetzt ist es gut, jetzt ist diese Geschichte abgeschlossen.“
Anna Maier: Ich möchte Dir nachträglich zu deinem 55. Geburtstag gratulieren, den Du am Ostersamstag gefeiert hast. Wie hast Du ihn verbracht?
Joachim Schoss: Im Kreise von Familie und Freunden auf Mallorca in unserem Ferienhaus.
Feierst Du eigentlich auch eine Art Gedenktag, seit Du im November 2002 ein zweites Leben geschenkt erhalten hast?
Der 23. November 2002 ist dieser besondere Tag. Den habe ich zehn Jahre lang sehr intensiv begangen. Insbesondere auch deswegen, weil viele Leute, die mit dem Unfall zu tun hatten, wie zum Beispiel mein Lebensretter, sich immer an diesem Tag bei mir gemeldet und mir zum Überleben gratuliert haben.
Insbesondere den 10. Jahrestag hat mir meine Frau mit – ich glaube – 50 Videos versüßt. Sie hat bei den verschiedensten Leuten, die beteiligt waren, nach Videos gefragt und hat mir diese dann vorgespielt. Das war ein sehr schönes Ereignis für mich, so dass ich dann auch gesagt habe: Jetzt ist es gut, jetzt ist diese Geschichte abgeschlossen. Jetzt machen wir dieses Buch zu.
Seitdem kriege ich zwar immer noch ab und an Anrufe am 23. November, aber seither ist mein wahrer Geburtstag wieder der wichtigere Tag in meinem Leben.
Was für Bilder haben sich bei Dir eingebrannt? Hast Du überhaupt eigene Erinnerungen an den Unfall?
Nein. Ich habe Erinnerungen an den Morgen und Mittag dieses Tages, der Unfall ist um 17 Uhr passiert. Am helllichten Tag übrigens. Die Erinnerung endet etwa zwei Stunden vor dem Unfall und setzt erst wieder 48 Stunden später ein.
Mir wurde von anderen Unfallopfern erzählt, dass man sich manchmal wieder erinnert, wenn man an den Unfallort zurückkommt. Ich bin drei Mal da gewesen, null Erinnerung kehrte zurück.
Wenn ich mit meinem Freund spreche, der mir das Leben gerettet hat, der auf dem vorausfahrenden Motorrad saß und dann natürlich umgedreht hat und – ich weiß gar nicht, wie viel davon ich hier erzählen soll – als erstes den Motorradstiefel mit Wadenbein und Schienenbein herausragend hat auf der Straße stehen sehen, und heute noch Albträume darüber hat, wie er mir dann das Leben gerettet hat, betend, dass ich es schaffe oder dass er es schafft, je nachdem, wie man es sehen will … dann bin ich ganz froh, dass ich diese Erinnerungen nicht habe und nicht abrufen kann.
„Ich hatte Albträume, dass durch mich ein Kind zu Schaden gekommen wäre.“
Wie wichtig ist es, dass man selber eine emotionale Distanz reinbringt, damit man eine solche Geschichte ertragen kann?
Na ja, ich habe mir das gar nicht aussuchen können. Die Erinnerung war weg und insofern habe ich große Schwierigkeiten gehabt, überhaupt zu verstehen, was passiert ist. Ich hatte Albträume, dass durch mich ein Kind zu Schaden gekommen wäre, was für den Heilungsprozess nicht besonders gut war.
Und man hat Dir erklären können, dass kein Kind zu Schaden gekommen ist? Konntest Du das ausschließen?
Ja, freundlicherweise haben sie im Krankenhaus den Polizisten gebeten, zu mir ins Krankenzimmer zu kommen und mir die Geschichte zu erzählen. Dass es nicht meine Schuld war, sondern, dass es eben die Schuld von dem Entgegenkommenden war.
Gegenüber meinen Freunden und Familienmitgliedern hab ich danach nur kommentiert: Das ist ja nett, dass ihr euch die Mühe macht, ich glaube es trotzdem nicht. Woraufhin mir dann Fotos gezeigt wurden. Erst als ich diese gesehen hatte, habe ich dann endlich verstanden, dass mich tatsächlich ein Betrunkener aus dem Gegenverkehr abgeschossen hat und durch mich kein Kind zu Schaden gekommen ist.
„Dass man solche Schmerzen haben kann, in einem Körperteil, das nicht mehr da ist!“
Kannst Du Dich an diesen Moment erinnern, als Du damals im Krankenhaus aufgewacht bist, nach 48 Stunden? Was ging Dir durch den Kopf, als Du zum ersten Mal realisiert hast, was überhaupt passiert ist?
Ja, zum einen erinnere ich mich, dass meine damalige Frau voller Entsetzen auf meine Schulter geschaut hat, wo man die Rippen sehen konnte, weil alles weggerissen war.
Ich kann mich daran erinnern, dass ich nicht glauben konnte, dass mir mein rechtes Bein fehlt, weil ich so unglaubliche Schmerzen im Fuß und im Sprunggelenk hatte und ich damals das Konzept von Phantomschmerzen noch nicht kannte. Ich dachte: Wenn man so höllische Schmerzen hat, dann muss dieses Körperteil doch da sein. Dann habe ich mir von allen Frauen, die zu Besuch waren, die Schminkspiegel um meinen Stumpf stellen lassen, um nachzuvollziehen, dass das, was da so unendliche Schmerzen machte, tatsächlich nicht mehr da war.
Ich war viel mehr fasziniert davon, dass man solche Schmerzen haben kann, in einem Körperteil, das nicht mehr da ist, als entsetzt darüber, dass mir fast das komplette rechte Bein weggekommen ist.
60 Liter Blut mussten Dir verabreicht werden. Die Ärzte haben nicht damit gerechnet, dass Du überlebst. Du hast in dieser Zeit ein Nahtoderlebnis gehabt. Was hast Du da genau gesehen?
Es war nicht am Unfalltag, damals bin ich sieben Stunden lang operiert worden und da haben die Chirurgen sicherlich das beste geleistet, was möglich war. Aber mein Zustand wurde immer schlechter, totale Niereninsuffizienz, Pneumothorax und so weiter.
Drei Wochen später kam dann die Nacht, in der ich eigentlich gestorben bin und die Ärzte tatsächlich aufgehört haben, an mir zu arbeiten, weil sie der Meinung waren, dass ich nicht mehr zu retten bin.
„Ich spürte meine drei Kinder, die gebettelt haben, dass ich hier bleiben möge.“
In diesem Moment ist das passiert, was ich erst im Nachhinein als Nahtoderlebnis identifizieren konnte – auch damit hatte ich mich bis dahin in meinem Leben noch nicht auseinandergesetzt. Ich kam in einen dunklen Tunnel, der am Ende ein sehr warmes, willkommen heißendes Licht hatte mit einer sehr starken Anziehungskraft auf mich.
Zur gleichen Zeit haben die Ärzte im OP aufgehört, an mir zu arbeiten und haben ihren Arbeitsplatz aufgeräumt. Und in diesen – ich weiß bis heute nicht, ob es Sekunden waren oder Minuten, zog mein Leben an mir vorbei und insbesondere die Menschen, mit denen ich zu tun gehabt hatte.
Besonders ausgeprägt spürte ich meine zu der Zeit drei Kinder, die noch sehr klein waren damals, die gebettelt haben, dass ich hier bleiben möge. In diesem Zustand, in dem ich war, hatte ich ganz stark das Gefühl, dass sie sich wünschen, dass ich weiter für sie da sein kann. Das führte bei mir zumindest zu einem Innehalten der Situation, in der ich da war.
Dann kam eine vierte Person in den OP und hat die drei Ärzte, die keine Lust mehr hatten, an mir weiterzumachen, aufgefordert, es doch noch einmal zu versuchen. Die Operation, die beim ersten Mal missglückt war, hat zur Überraschung aller dann funktioniert und ich war wieder da.
Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass sich das genau so abgespielt hat?
Ja.
„Was für eine menschliche Bilanz habe ich hinterlassen?“
Du hast in einem Interview gesagt, der Unfall sei „Die wertvollste Erfahrung“ Deines Lebens gewesen. Ist das auch ein Versuch, diese Situation, die viele andere in ein dunkles Loch gestürzt hätte, zu akzeptieren?
(lacht) Dass das das Wertvollste war, was mir je passiert ist, würde ich nicht sagen. Vielleicht das Nahtoderlebnis, aber sicherlich nicht, einen Arm und ein Bein zu verlieren und alle möglichen inneren Organe. Was aber Gutes bei mir passiert ist, ist eine Veränderung der Prioritäten in meinem Leben, das muss ich ganz klar sagen.
Wenn ich über die Schwerpunkte meines Lebens vor dem Unfall nachdenke, dann ging es sehr stark darum, Scout24 erfolgreich zu machen, als übrigens drittes Unternehmen, das ich gegründet habe. Ich war voll im Business und habe sehr hart dafür gearbeitet, alles andere hatte zweite Priorität, mit Abstand.
Was mir im Sterben eben bewusst wurde: Es gibt keinen, der dann sagt, ich hätte noch mehr Firmen gründen oder noch mehr Geld verdienen sollen. Das Thema im Sterben ist vielmehr, was für eine menschliche Bilanz habe ich hinterlassen. Und nicht, was für eine kommerzielle Bilanz habe ich hinterlassen.
Insofern war dieses Nahtod-Erlebnis wahrscheinlich das Beste, was mir je passiert ist, weil mir das mit 39 Jahren die Möglichkeit gegeben hat, ein zweites Leben zu beginnen, mit anderen Prioritäten.
Du hast Deine Kinder erwähnt, es waren drei, als der Unfall passiert ist. Der Jüngste war eineinhalb. Wie haben sie auf Deine Bettlägerigkeit reagiert?
Sehr unterstützend. Der Kleine wollte immer zu mir, was strikt verboten war, weil bei mir fünf Schläuche im Arm hingen, der sogar festgebunden war, damit ich nicht aus Versehen die Schläuche rausziehe.
Insofern konnte er nicht an mich ran, was ihm, 17 Monate war er da, sehr schwer zu vermitteln war. Das war hart, auch später, weil er, als ich wieder mit Prothese stehen konnte, immer auf meinen Arm wollte. Heute schaffe ich das, aber damals war ich noch viel zu schwach, um ein Kind hochzuheben.
„Was ich allen Eltern empfehlen kann: Sich auch mal von seinem kleinen Kind abhängig zu machen.“
Nun könnte man die Situation auch durch die Augen des Kindes sehen: Du kamst körperlich auf seine Stufe.
Ja, das stimmt! Und das ist für alle Eltern vielleicht auch interessant: Wenn man keine Möglichkeit hat, sein Kind zu halten, sondern es nur mit Worten erziehen kann, dann erreicht man sogar bei einem Zweijährigen schon unendlich viel.
In der Anfangszeit war ich natürlich sehr unbeweglich. Ich war sechs Monate im Krankenhaus und dann bin ich nach Hause gekommen und war auch zu Hause eigentlich zu 80% im Bett. Wenn ich zum Beispiel abends vergessen hatte, mir für die Nacht eine Flasche Wasser mit ins Schlafzimmer zu nehmen, dann war er derjenige, mit seinen zwei Jahren, der dann ein Stockwerk runter in die Küche gelaufen ist und mir eine Flasche gebracht hat.
Wir haben dann den Spruch geprägt: „Zusammen schaffen wir alles.“ Weil der Zweijährige – logischerweise – seinen Papa braucht, aber in dem Moment brauchte ich auch ihn sehr stark. Das war eine sehr schöne Erfahrung für uns beide, die ich allen Eltern empfehlen kann: Sich auch mal von seinem kleinen Kind abhängig zu machen und ihm das Gefühl geben, dass es entscheidend ist im Leben seiner Eltern.
Hat dieser Umstand grundsätzlich und anhaltend die Beziehung zu diesem Sohn verändert?
Ja, das denke ich schon. Wir haben sicherlich eine andere, spezielle Beziehung.
Du musst einen unglaublichen Überlebenswillen gehabt haben, wenn die Ärzte nicht mal mehr an Dich glaubten und Du trotzdem überlebt hast. Wie erklärst Du Dir, dass Du die Stärke aufgebracht hast, wieder zurückzukommen?
Ich habe auch viel drüber nachgedacht. Nicht wegen mir, sondern wegen anderen Patienten, bei denen ich gesehen habe, dass sie nicht den gleichen Willen hatten oder haben.
Das war auch mit einer der Gründe, die Stiftung „MyHandicap“ ins Leben zu rufen. Ich habe damals verstehen gelernt, dass der Wille vom lieben Gott genauso verteilt worden ist wie vielleicht Augenfarbe oder Körperkräfte oder Körpergröße.
Ich bin von Gott beschenkt worden mit einer starken Willenskraft. Und die hat mir geholfen, Unternehmen aufzubauen und durch diese Situation gut durchzukommen.
Man sagt ja aber auch, dass ein Patient schneller heilt, wenn er motiviert wird. Das braucht es ja nicht nur in der Krankheit, sondern auch sonst im Leben. Hat die fehlende Unterstützung bei Dir verändert, wie Du mit Menschen umgehst, die in einer schwierigen Situation stecken?
Ja, absolut. Ganz konkret hat mich extrem frustriert – und tut es bis heute – die Art und Weise, wie Ärzte mit mir umgegangen sind. Aber natürlich passiert das tausend anderen Patienten auch – indem einfach Durchschnittsprognosen abgegeben werden.
Du hast 5% Überlebenschance, jetzt hast du gar keine Überlebenschance mehr, du hast noch sechs Monate zu leben und so weiter und so fort.
„Den kriegen wir nicht mehr hin!“
Die Ärzte, mit denen ich das diskutiere, bestehen immer darauf, dass sie die Wahrheit sagen müssen. Ich erwidere dann: Dann sagt doch bitte, ein durchschnittlicher Patient mit deiner Diagnose hat sechs Monate zu leben, aber DU kannst mit etwas Glück noch 30 Jahre leben. Oder sagt: Ja, deine Überlebenschancen sind im Moment gegen Null – aber so ein Typ wie du, der kann es schaffen!
Witzigerweise hat mir das eine von den dunkelhäutigen Krankenschwestern gesagt: Als du eingeliefert worden bist und ich deinen Blick gesehen habe, habe ich gedacht, du schaffst das, obwohl dein Zustand entsetzlich war. Diese Motivation würde ich mir eigentlich von Ärzten wünschen.
Ich kenne Fälle, bei denen mit unendlich viel Energie und Einsatz Menschen gerettet werden, die sich bei der ersten Gelegenheit selbst umbringen, weil sie einfach nicht leben wollen mit einer schweren Behinderung. Und umgekehrt Leute, die sehr gerne leben wollen, die werden mit dem Satz: „Den kriegen wir nicht mehr hin“ quasi geopfert. Das darf wirklich nicht sein.
Während Du gekämpft hast, in der monatelangen Rekonvalesenz, wurde Scout24 an die Deutsche Telekom verkauft. Die Firma, die bis zu Deinem Unfall Dein Leben war. Haderst Du heute damit, dass man das in dieser Phase gemacht hat?
Ich hatte andere Probleme. Aber wenn ich das jetzt aus der Sicht von 2018 rückblickend sehe, war das natürlich der falsche Zeitpunkt. Und wenn ich gewusst hätte, wie gut ich wieder zurückkomme, hätte ich mich sicherlich wieder einbringen wollen und können. Aber es ist alles gut, wie es ist, und in der Situation ging es um Anderes, ums nackte Überleben, tatsächlich.
„Ich bin abends eingeschlafen mit der Frage, ob ich am nächsten Morgen aufwache.“
Das heißt, Du konntest loslassen, weil Du musstest?
Ja, ich muss das vielleicht erklären: Ich bin wochenlang abends eingeschlafen mit der Frage, ob ich am nächsten Morgen aufwache. Da stellt man sich viele spannende Fragen. Das ist ja ein wesentlicher Grund, warum ich überhaupt über diese Dinge rede, weil ich hoffe, dass andere die Erfahrung machen können, ohne dafür einen Arm und ein Bein abgeben zu müssen. Dass andere aus dem, was ich schmerzhaft erfahren habe, etwas lernen können.
Stellen Sie sich heute Abend beim Einschlafen vor, Sie wüssten nicht, ob Sie morgen aufwachen. Es wäre der letzte Tag. Oder Sie hätten von mir aus noch zwei Tage. Was würde das mit Ihnen machen? Würden Sie den nächsten Tag genauso begehen wie die letzten hundert Tage? Oder würden Sie vielleicht etwas ändern?
In den letzten Minuten des Lebens ist nicht die Frage, wie erfolgreich bin ich gewesen, wie teuer sind die Firmen, die ich aufgebaut habe, sondern was für ein Mensch bin ich gewesen. Was für ein Kollege, Bruder, Sohn, Partner, Vater und so weiter.
Ich erwische mich ja selber, 15 Jahre später, dass ich wieder einen Großteil meiner Energie in diese Themen reinstecke, die ja auch Spaß machen und einen bestätigen, aber vielleicht in der Gesamtschau nicht die Bedeutung haben, wie wir sie ihnen immer geben.
Deine Ehe ging in die Brüche nach dem Unfall. Was würdest Du einem Paar empfehlen, das in derselben Situation steckt, plötzlich mit einer Extremsituation konfrontiert ist, wie es durch diese Zeit kommt?
Ich glaube, das ist sehr individuell. Das hängt auch sehr stark von dem Schicksalsschlag ab. Ein weiser Freund von mir hat gesagt: Entweder es bringt Dich zusammen oder es bringt Dich auseinander – ich glaube, da ist sehr viel Wahres dran. Ganz viele Beziehungen gehen in solchen Ausnahmesituationen auseinander und es hilft sicherlich, das einfach anzuerkennen und nicht noch eine andere Geschichte daraus machen zu müssen.
Was hat es mit Dir gemacht, dass Du in diesem sehr verletzlichen Moment verlassen wurdest?
What doesn’t kill you, makes you stronger, nicht wahr? Und ich habe eine wunderbare neue Frau gefunden.
„Da war meine handtellergroße Narbe und sie hat hineingeküsst.“
Wie hast Du sie kennengelernt? Magst Du erzählen?
Ja, das kann ich schon machen. Also es ist wirklich sehr intim (lacht). Ich hab eine Silikonschulter, weil vom rechten Arm einfach alles weg ist. Das sieht nicht besonders hübsch aus hier drunter und ja, ich war mit meiner Frau, also meiner jetzigen Frau, das erste Mal schwimmen und habe meine Schulterprothese und mein T-Shirt angelassen, weil es eben nicht so schön aussieht.
Dann habe ich mich draußen auf die Liege gelegt und habe das Shirt immer noch angelassen, woraufhin sie gesagt hat: Hey, du kannst doch jetzt nicht in den nassen Sachen neben dem Pool liegen. Da habe ich ihr geantwortet: Es sieht nicht so schön aus. Sie meinte nur: Ich bin Arzttochter, ich kann das ab.
Ich habe also das Shirt ausgezogen und da war meine handtellergroße Narbe und sie hat sich darüber gebeugt und hineingeküsst. Das war einer der wesentlichen Heilungsmomente meiner ganzen Krankengeschichte – die Wiederherstellung des Gefühls der eigenen Attraktivität.
Heute ist sie Deine Frau, Du hast mittlerweile fünf Kinder, Dir wurde eigentlich wirklich in jeder Hinsicht ein neues Leben geschenkt, kann man sagen. Heute kümmerst Du Dich um andere, die in ähnlichen Situationen sind. Dafür hast Du die Plattform MyHandicap gegründet, für was gibt es diese?
Zum einen muss man meine Situation sehen: Ich habe bis zu diesem Unfalltag sehr viel, sehr hart gearbeitet und war als Unternehmer nie besonders liquide, weil ich natürlich alles Geld immer reinvestiert habe. Ich hatte also bis zum Unfall wenig Liquidität in der Hand gehabt und noch weniger Zeit.
Durch den Unfall und durch den Verkauf des Unternehmens hatte ich auf einmal ganz viel Zeit und relativ viel Geld, so dass ich mir gesagt habe, jetzt musst Du irgendetwas Neues, Sinnvolles machen. Es war naheliegend, mit dem, was ich um mich herum erlebt habe, zum Beispiel die mangelnde Motivation von Patienten, etwas zu bauen, was ein paar dieser Missstände adressiert.
„Ich hab die Hose herunterlassen müssen um zu beweisen, dass ich oberschenkelamputiert bin.“
Wir haben beispielsweise einen Service in der Stiftung, bei dem man einen Betroffenen rufen kann, der dann ins Krankenhaus kommt zu jemandem, dem etwas ähnliches passiert ist. Wir versuchen immer, jemanden zu schicken, der eine ähnliche Verletzung hat.
Also gehe ich zum Beispiel zu Leuten, die frisch beinamputiert sind. Es ist gar nicht viel, was man dann machen muss. Ich lasse natürlich die Krücke vor dem Krankenzimmer stehen. Wenn man halbwegs fröhlich, aufrecht, vernünftig in den Raum hinein geht, hilft das dem frisch Verunfallten schon sehr, eine Vorstellung zu bekommen, wie es auch für ihn wieder werden kann.
Ich hab sogar schon mal die Hose herunterlassen müssen, um zu beweisen, dass ich oberschenkelamputiert bin, weil das jemand nicht glauben konnte. Wenn der Unfall erst drei Tage zurückliegt, und ich weiß das sehr genau aus eigener Situation, dann denkt man, das Leben ist zu Ende: Man kann nie wieder laufen, man kann nie wieder Auto fahren, man kann nie wieder arbeiten.
Manche dieser Filme, die bei einem Betroffenen ablaufen, sind sehr, sehr negativ und wir versuchen eben möglichst früh nach einem solchen Ereignis dazuzukommen und einfach zu zeigen, wie es ein paar Jahre später wieder sein kann, um damit den Aspekt rüberzubringen: Du kannst auch in drei Jahren wieder auf zwei Beinen in ein Zimmer hereinkommen, so, dass andere Leute Dir nicht glauben, dass Du oberschenkelamputiert bist.
Die Hoffnung, die es da ganz stark braucht.
Ja. Als jemand, der schon ein paar Internetportale aufgebaut hatte, konnte ich gar nicht glauben, dass für die Zielgruppe, für die das Internet einen besonders hohen Nutzen hat, nämlich für Menschen mit Behinderung, mit Mobilitätseinschränkungen, die durch das Internet wunderbar weiter am Leben teilnehmen können, dass ausgerechnet für diese Zielgruppe noch kein Portal existierte.
Und so war das fast ein unternehmerischer Zwang, das Problem zu sehen und dann zu sagen, okay, das wird jetzt mein neues Thema. Da ich sowieso jetzt Geld habe und Zeit, muss ich mir die Zeit ja irgendwie anders vertreiben.
„Hast du nicht Lust, Bill Clinton kennenzulernen?“
Zur Eröffnung eures Center for Disability and Integration an der HSG St. Gallens 2009 kam Bill Clinton. Ein Freund?
Ja, Freund ist ein bisschen viel gesagt, also die Amerikaner sagen ja immer my friend, das sagt er sicherlich …
Sagen wir also: freundschaftlich verbunden?
Ja, freundschaftlich verbunden. Ich bin Mitglied einer internationalen Organisation, YPO, die Young Presidents‘ Organization. Und da gehört es zum guten Ton, dass man sich untereinander hilft.
Da war die Anfrage von einem amerikanischen YPO-Mitglied, der für seine Schwester für eine Zeit eine Wohnung in Zürich gesucht hat. Und nachdem ich damals ja gerade Single war, aber noch auf 800 Quadratmetern gewohnt habe, hab ich gesagt, das ist überhaupt kein Problem, sie kann da die eine Wohnung haben.
Ein halbes Jahr später kam dieser Kollege nach Zürich und wollte mich auf einen Kaffee treffen und dann hat er gefragt: Was kann ich dir denn Gutes tun? Meine Antwort war: Ich habe alles, danke (lacht). Dann hat er gesagt: Du mit Deiner Stiftung, ich habe mal im Wahlkampf Bill Clinton unterstützt. Hast du nicht Lust, Bill Clinton kennenzulernen?
Und Du dachtest, jaja …
Nee nee, der war schon ernst zu nehmen. Ich willigte also ein, dachte, das könnte reizvoll sein, Bill Clinton mal zu treffen. Was dann auch irgendwie vier Wochen später an der London School of Economics passierte, und ich erfuhr, dass Bill Clinton auch ein Nahtoderlebnis hatte und da war sofort eine wunderbare Gesprächsbasis da.
Bill Clinton ist jemand, der sehr auf die Menschen eingeht. Ich glaube, dass viele Menschen das Gefühl von ihm bekommen, dass sie mit ihm eine gute Basis haben. Dann hat er gesagt, er fände super, was wir machen mit MyHandicap – wenn ich dich unterstützen kann, dann mache ich das gern.
Ich musste mich dann total an seine Reisepläne halten, er war auf dem Flug von Ex-Jugoslawien nach Spanien und hat gerade mal zwei Stunden Zwischenstopp in Zürich machen können und ist schnell nach St. Gallen gekommen, um die Eröffnungsrede zu halten, so war’s – ein grosser Erfolg.
Ihr habt noch Kontakt?
Ja.
„Der betrunkene Unfallverursacher hat sich nie gemeldet.“
Wenn man mit Dir spricht, spürt man viel Positives, wie wenn Du das Leben umarmst und Dein Schicksal akzeptiert hättest. Was hat Dich davor bewahrt, in eine Depression zu fallen und auch, dass Du nie psychologische Hilfe in Anspruch nehmen musstest?
Zu dem Ärzteteam, das ja aus einem Dutzend Ärzten besteht, gehört automatisch auch ein Psychologe in solchen Fällen wie meinem. Das heißt, es stand mir immer jemand zur Verfügung, aber den habe ich tatsächlich nicht wirklich gebraucht.
Ich kann das nicht erklären. Ich hätte eher die Frage: „Warum wird man depressiv?“ als dass ich die Frage angemessen finde, warum man nicht depressiv geworden ist. Ich will jetzt nicht sagen, „nur weil man ein Bein verliert“, aber ich war immer lebendig. Und ich wollte immer leben. Und für mich war immer nur die Frage: Wie komme ich wieder auf die Beine?
Hattest Du je Kontakt mit dem betrunkenen Unfallverursacher?
Der hat sich nie gemeldet, interessanterweise.
Und Du hattest auch nicht das Bedürfnis, Dich bei ihm zu melden? Vielleicht hätte es zu einer schnelleren Heilung beigetragen?
Meiner oder seiner? (lacht) Nein. Wäre ich der Unfallverursacher gewesen, würde mich das wahnsinnig quälen. Ich hätte das Bedürfnis, denjenigen kennenzulernen. Und ich denke mir, das muss er ja eigentlich auch haben. Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Vielleicht ist es ihm relativ egal. Zumal ich ja 2 Monate vor Ort war. Es wäre also für ihn eine Kleinigkeit gewesen, mal im Krankenhaus vorbeizuschauen.
Was hat das in Dir ausgelöst, dass er sich nicht gemeldet hat?
Wenn er jetzt hier sitzen und sagen würde, ich war’s, würde ich mich freuen, ihn persönlich kennenzulernen. Und ich würde ihm gern zuhören, wenn er herkäme und erzählte, wie es für ihn gewesen ist.
„Was mache ich denn jetzt eigentlich noch aus meinem Leben?“
Gibt es für Dich Ziele, die Du unbedingt noch erreichen möchtest?
Auch das hat sich geändert. Vor dem Unfall habe ich sicherlich sehr stark in der Zukunft gelebt. Jetzt bewege ich mich viel mehr in der Gegenwart und versuche, das Beste aus der Gegenwart zu machen. Die glückliche Familie habe ich zum Glück, was ein großes Ziel war. Es kann eigentlich so weitergehen, wie es ist. Ich bin sehr zufrieden.
Nur: Mit 55 bin ich durchaus an einer Stelle, wo ich mich frage: Was mache ich denn jetzt eigentlich noch aus meinem Leben? Ich bin gerade mehr oder weniger in einer Abwarteposition, dass ich schaue, was jetzt noch kommt. Ich bin ja immer noch im Business, aber der Zusatznutzen, der sich für mich daraus ergibt, ist gering.
Zum Beispiel irgendwann einmal als Großvater an einer schönen Familientafel zu sein, an der fünf Kinder und 15 Enkelkinder sitzen. Das sind Bilder, die ich mir sehr angenehm vorstellen kann.
Noch eine Frage zum Thema Tod, ich erlebe, dass sehr viele Menschen den Tod fürchten. Hattest Du vor diesem Schicksalsschlag Angst vor dem Tod und inwiefern hat sich Deine Beziehung dazu verändert?
Ja, eine ganz gute Frage. Hatte ich vorher Angst vor dem Tod? Ich habe vorher immer geglaubt, dass ich nicht lange leben würde. Seit dem Unfall glaube ich, ich werde 100 Jahre alt. Also das war offensichtlich die Vorahnung zu diesem Erlebnis, aber dann eben mit einem anderem Ausgang.
Mit meinem Nahtod-Erlebnis habe ich gelernt, dass der Tod eine angenehme Seite hat. Das, was am anderen Ende des Tunnels, wenn man weitergegangen wäre, auf einen wartet, schien sehr verlockend. Und insofern sollte meines Erachtens niemand Angst vor dem Tod haben. Es ist schade für die, die hierbleiben. Sie trauern um den, der gegangen ist, aber der, der weg ist, der hat vielleicht das bessere Ende für sich.
Möchtest Du ein Buch über Dein Leben schreiben? Hast Du eine Biographie geschrieben?
Vielleicht zum 75., aber noch nicht zum 55.! (lacht)
Bilder: Jessica Kassner
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Beat Merki
Eine sehr beeindruckende Geschichte welche allen Menschen Mut machen muss die auch schon mal an einem Punkt angelangt sind wo sie dachten es geht nicht mehr weiter. Diese interessant geschilderte Geschichte beweist einmal mehr, dass man durch positves Denken und nach vorne schauen sehr viel erreichen kann.
Danke Anna für dieses eindrückliche Interview.
Sibylle Leuthold
Vielen Dank ! Dieses Interview ist beeindruckend und nachhaltig
Anna Maier
Liebe Sibylle, lieben Dank für dein Feedback, welches mich sehr freut! So soll es sein. Herzliche Grüsse, Anna
Sara
Liebe Anna, vielen Dank für dieses tolle Interview, es hat mich sehr berührt!
Anna Maier
Danke, Sara! Mich hat Joachim Schoss‘ Geschichte selber auch sehr berührt. Herzlich, Anna